Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
gegen die Nebenwirkungen, Stesolid und Distraneurin.
Pollock hat ihr erklärt, dass es keine Rolle spiele, was bei ihr diagnostiziert worden sei – »deine Dosierung kennst du trotzdem haargenau«, hat er gesagt. »Sie ist dein Leben, die Medikamente lassen dich überleben.«
Vor dem hell erleuchteten, menschenleeren Terminal der Finnlandfähren hält ein leerer Bus.
»Decentan, acht Milligramm, drei Mal am Tag«, flüstert sie beim Laufen. »Cipramil dreißig Milligramm, Seroxat zwanzig Milligramm …«
Kurz vor dem Fotografiemuseum schlägt Saga eine andere Richtung ein und nimmt die steile Treppe, die vom Stadsgårdsleden an den Felswänden entlang hochführt. Oben angekommen bleibt sie auf dem Katarinavägen stehen, lässt den Blick über Stockholm schweifen und wiederholt innerlich ein weiteres Mal Joonas Regeln.
Ich werde für mich bleiben, wenig und in kurzen Sätzen sprechen. Ich werde immer meinen, was ich sage, und nur die Wahrheit sagen.
Das ist alles, denkt sie und trabt in Richtung Hornsgatan.
Auf dem letzten Kilometer läuft sie noch einmal schneller und versucht, auf der Tavastgatan bis zu ihrer Haustür zu sprinten.
Saga eilt die Treppen hoch, streift auf der Türmatte im Flur die Schuhe ab und geht direkt duschen.
Es ist ungewohnt, wie leicht es ist, sich hinterher ohne die langen Haare abzutrocknen. Sie braucht sich nur einmal kurz mit dem Handtuch über den Kopf zu fahren.
Sie zieht die schlichteste Unterwäsche an, die sie besitzt. Einen weißen Sport-BH und einen Slip, den sie sonst nur anzieht, wenn sie ihre Tage hat. Eine Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine verwaschene Sportjacke.
Sie neigt eigentlich nicht zu Nervosität, aber plötzlich überkommt sie ein flaues Gefühl.
Es ist fast zwanzig nach sechs. In elf Minuten wird sie abgeholt. Sie legt die Armbanduhr neben das Wasserglas auf dem Nachttisch. Wo sie hinfährt, ist die Zeit tot.
Als Erstes geht es ins Kronoberg-Gefängnis, wo sie jedoch nur zwei Stunden bleiben wird, bis der Transportdienst sie abholt und nach Katrineholm bringt. In der Klinik Karsudden wird sie anschließend etwa einen Tag verbringen, bis der Beschluss zur Verlegung in den Sicherheitstrakt des Löwenströmschen Krankenhauses umgesetzt wird.
Sie bewegt sich langsam durch die Wohnung, schaltet alle Lampen aus und zieht ein paar Stecker, ehe sie in den Flur zurückkehrt und sich ihren grünen Parka überstreift.
Im Grunde ist es kein schwieriger Auftrag, denkt sie erneut.
Jurek Walter ist ein alter Mann, der wahrscheinlich starke Medikamente nimmt und abgestumpft ist.
Sie weiß, dass er sich grauenvoller Dinge schuldig gemacht hat, aber sie muss einfach nur die Ruhe bewahren und darauf warten, dass er sich ihr nähert, darauf warten, dass er etwas sagt, was ihnen weiterhelfen kann.
Entweder es funktioniert oder es funktioniert nicht.
Es wird Zeit, auf die Straße hinunterzugehen.
Saga löscht das Licht im Flur und geht ins Treppenhaus.
Sie hat alle frischen Lebensmittel aus ihrem Kühlschrank weggeworfen, aber niemanden gebeten, nach der Wohnung zu schauen, die Blumen zu gießen und sich um die Post zu kümmern.
72
Saga schließt ab und steigt die Treppen hinunter. Als sie den Wagen des Transportdienstes sieht, der auf der dunklen Straße wartet, regt sich Sorge in ihr.
Sie öffnet die Tür und setzt sich neben Nathan Pollock.
»Es ist gefährlich, Tramper mitzunehmen«, sagt sie und versucht zu lächeln.
»Hast du ein bisschen schlafen können?«
»Ein bisschen«, antwortet sie und schnallt sich an.
»Ich weiß, dass du es weißt«, sagt Pollock und wirft ihr von der Seite einen Blick zu. »Aber ich möchte dich trotzdem noch einmal daran erinnern, dass du nicht versuchen darfst, ihm bewusst Informationen zu entlocken.«
Er legt den ersten Gang ein, und das Auto setzt sich auf der stillen Straße in Bewegung.
»Das ist fast das Schwierigste«, erwidert Saga. »Stell dir vor, er sitzt nur da und labert über Fußball, oder vielleicht redet er auch überhaupt nicht.«
»Dann ist es eben so, da kann man nichts machen.«
»Aber Felicia lebt vielleicht nur noch ein paar Tage …«
»Das ist nicht deine Verantwortung«, schärft Nathan Pollock ihr ein. »Diese Infiltration ist ein Schuss ins Blaue, das wissen wir alle, da sind wir uns einig … Was du tust, geschieht völlig unabhängig von den laufenden Ermittlungen. Die Gespräche mit Mikael Kohler-Frost gehen weiter, wir verfolgen alte Spuren und …«
»Aber keiner glaubt …
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