Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
neue Kleider bekommt.
In weiten grünen Kleidungsstücken und weißen Sportschuhen wird sie in ihre Zelle in Abteilung 8:4 gebracht.
Ehe sie die Tür hinter ihr schließen und verriegeln, erkundigen sich die Frauen freundlich, ob sie ein Käsebrot und eine Tasse Kaffee möchte.
Saga schüttelt nur den Kopf.
Als die Frauen gegangen sind, bleibt Saga in ihrer Zelle eine Weile regungslos stehen.
Es lässt sich schwer schätzen, wie viel Uhr es ist, aber bevor es zu spät ist, geht sie zum Becken, füllt ihre Hände mit Wasser, trinkt und presst anschließend zwei Finger in den Hals. Sie hustet, und ihr Magen zieht sich zusammen. Nach ein paar heftigen, schmerzhaften Krämpfen würgt sie das Päckchen mit dem Mikrofon hoch.
Tränen laufen ihr nach dem Erbrechen aus den Augen, als sie die Kapsel abspült und sich das Gesicht wäscht.
Sie legt sich auf die Pritsche und wartet mit dem Mikrofon in der Hand.
Im Flur herrscht Stille.
Der Geruch von Toilette und Abfluss steigt ihr in die Nase, und sie schaut an die Decke und liest die Worte und Namen, die im Laufe der Jahre in die Wände geritzt worden sind.
Die Rechtecke aus Sonnenlicht haben sich nach links bewegt und nähern sich dem Fußboden, als sie im Flur Schritte hört. Rasch stopft Saga sich die Kapsel in den Mund, steht auf und schluckt. Im selben Moment rasselt das Schloss, und die Tür wird geöffnet.
Es ist so weit, jetzt wird man sie ins Krankenhaus Karsudden bringen.
Der uniformierte Leiter des Transports quittiert den Empfang von Saga, ihrer Habe und der erforderlichen Dokumente. Saga steht still, während man ihr Handschellen und Fußfesseln anlegt und in die Transportpapiere einträgt, dass sie stets so gefesselt werden muss.
74
Die Sonderkommission der Polizei umfasst zweiunddreißig Personen, sowohl Zivilbeamte als auch Polizisten aus den verschiedenen Dezernaten der Landeskriminalpolizei.
In einem Großraumbüro im fünften Stock hängen die Wände voller Karten, auf denen die Orte, an denen Vermisste im Fall Jurek Walter zuletzt gesehen oder tot aufgefunden wurden, markiert sind. Von Farbdrucken der Fotos Verschwundener ausgehend verbinden sich Linien zu Systemen aus Familienkonstellationen, Kollegen und Freunden.
Alte Vernehmungen mit Angehörigen derjenigen Opfer, die gefunden wurden, werden nochmals durchforstet und neue Gespräche geführt. Man geht die gerichtsmedizinischen und kriminaltechnischen Berichte durch und spricht mit jedem im Umkreis der Opfer von den engsten Verwandten bis zu den flüchtigsten Bekannten.
Joona Linna steht mit seiner Arbeitsgruppe im winterlichen Licht am Fenster und liest die Abschrift des letzten Gesprächs mit Mikael Kohler-Frost. Nach der Lektüre herrscht eine gedrückte Stimmung in der Gruppe. Mikaels Worte liefern nichts, was die Ermittlungen weiterbringen könnte.
Nachdem die Analytiker alles aus seinen Aussagen herausgefiltert haben, was Angst und Verzweiflung geschuldet ist, bleibt kaum etwas übrig.
»Nichts«, murmelt Petter Näslund und rollt die Blätter zusammen.
»Er sagt, er spüre seine Schwester, wie sie jedes Mal, wenn sie in der Dunkelheit erwache, nach ihm suche«, sagt Benny traurig. »Er spüre, wie sehr sie hoffe, er wäre zurück …«
»An diesen Schwachsinn glaube ich nicht eine Sekunde«, fällt Petter ihm ins Wort.
»Wir müssen davon ausgehen, dass Mikaels Worte in irgendeiner Form die Wahrheit sind«, sagt Joona.
»Aber das mit dem Sandmann«, widerspricht Petter grinsend. »Ich meine …«
»Für den Sandmann gilt das Gleiche«, erwidert Joona.
»Er spricht über eine Märchenfigur«, sagt Petter. »Sollen wir etwa alle verhören, die Barometer verkaufen oder …«
»Du wirst es nicht glauben, aber ich habe schon alle Hersteller und Geschäfte auflisten lassen«, entgegnet Joona lächelnd.
»Aber, verdammt …«
»Ich weiß, dass der Wetterglasverkäufer in E. T. A. Hoffmanns Erzählung vom Sandmann auftaucht«, fährt Joona fort. »Und ich weiß, dass Mikaels Mutter den Kindern Gute-Nacht-Geschichten vom Sandmann erzählt hat, aber das heißt noch lange nicht, dass er nicht wirklich existiert.«
»Auch wenn es wehtut, wir haben absolut nichts in der Hand«, stellt Petter fest und wirft die zusammengerollte Abschrift auf den Tisch.
»Fast nichts«, korrigiert Joona ihn freundlich.
»Mikael war betäubt, als er in die Kapsel gebracht wurde, und betäubt, als er aus ihr fortgeschafft wurde«, sagt Benny mit einem Seufzer und fährt sich mit der Hand über
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