Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
schnelle Schritte zu hören, aber zu ihrem Zimmer kommt niemand.
Es wird still.
Saga sitzt auf dem Bett und schließt die Augen, als durch die Wände ein Knurren an ihr Ohr dringt. Ihr Herz schlägt schneller. Plötzlich brüllt Jurek Walter unartikuliert und schreit vor Schmerz. Es knallt in den Wänden, als träte jemand mit nackten Fersen gegen die gepanzerten Platten. Es klingt fast wie Schlagkombinationen auf einen Sandsack.
Saga starrt die Tür an und denkt an Elektroschocks und Lobotomien.
Jurek Walter schreit mit gebrochener Stimme, und anschließend hört man dumpfes Wummern.
Dann wird es wieder still.
Das einzige verbleibende Geräusch ist das leise Ticken der Wasserleitungen in der Wand. Saga steht auf und starrt durch die dicke Glasscheibe, an der gerade der junge Arzt vorbeigeht. Er bleibt stehen und sieht sie mit ausdrucksloser Miene an.
Sie sitzt auf dem Bett, bis das Licht an der Decke ausgeht.
Das Dasein im Sicherheitstrakt ist weitaus schwerer zu ertragen, als sie es sich vorgestellt hatte. Statt zu weinen, geht sie die Regeln für ihren Auftrag und das Ziel der gesamten Operation durch.
Felicia Kohler-Frost ist ganz alleine in einem abgeschlossenen Raum. Sie hungert möglicherweise und leidet unter Umständen an der Legionärskrankheit.
Die Zeit drängt.
Saga weiß, dass Joona nach dem Mädchen sucht, aber ohne Informationen von Jurek Walter ist die Wahrscheinlichkeit eines Durchbruchs bei den Ermittlungen nicht sonderlich groß.
Saga muss bleiben, sie muss versuchen, dieses Dasein noch eine Weile zu ertragen.
Sie denkt darüber nach, dass das Leben, das sie verließ, sie zuvor bereits längst verlassen hatte. Stefan ist fort. Sie hat keine Familie.
104
Joona Linna hält sich mit einem Teil der Sonderkommission in einem der Großraumbüros der Landeskriminalpolizei auf. Die Wände hängen voller Karten, Fotografien und Ausdrucke der Hinweise, die derzeit Priorität genießen. Auf einer detaillierten Karte des Lill Jans-Waldes sind die Fundorte markiert.
Mit einem gelben Stift folgt Joona der Eisenbahnlinie vom Hafen durch den Wald und wendet sich seinen Mitarbeitern zu.
»Jurek Walter reparierte unter anderem Eisenbahnweichen«, sagt er. »Es ist also durchaus denkbar, dass die Opfer im Lill Jans-Wald vergraben wurden, weil dort die Eisenbahnlinie verläuft.«
»Wie Angel Ramirez«, sagt Benny Rubin und lächelt unmotiviert.
»Aber warum zum Teufel gehen wir nicht einfach zu Jurek Walter und vernehmen ihn?«, fragt Petter Näslund mit viel zu lauter Stimme.
»Das hat keinen Sinn«, antwortet Joona geduldig.
»Petter, ich nehme an, dass du das gerichtspsychiatrische Gutachten gelesen hast«, sagt Magdalena Ronander. »Hältst du es für sinnvoll, einen schizophrenen und psychotischen Mann zu vernehmen, der …«
»Das Schienennetz in Schweden umfasst nur schlappe 18000 Kilometer«, unterbricht er sie. »Wir müssen also bloß noch graben.«
Petter Näslund hat Recht, denkt Joona. Jurek Walter ist der Einzige, der sie zu Felicia führen kann, bevor es zu spät ist. Sie folgen jeder kleinsten Spur in den alten Ermittlungsakten, sie gehen den Hinweisen nach, die aus der Bevölkerung eingehen, kommen aber keinen Schritt weiter. Saga Bauer ist ihre einzige wirkliche Hoffnung. Gestern hat sie einen anderen Patienten zusammengeschlagen, wofür die Ärzte Jurek Walter die Schuld gegeben haben. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, denkt Joona. Vielleicht bringt es ihn dazu, sich ihr zu nähern.
*
Es dämmert, und vereinzelte Schneekörnchen treffen Joonas Gesicht, als er aus dem Auto steigt und ins Söder-Krankenhaus eilt. Am Empfang erfährt er, dass Irma Goodwin an diesem Abend Dienst in der Ambulanz hat. Als er eintritt, sieht er sie sofort. Die Tür zu einem Behandlungsraum steht halb offen. Eine Frau mit aufgesprungener Lippe und einer blutenden Wunde am Kinn sitzt schweigend da, während Irma Goodwin auf sie einredet.
Es riecht nach nasser Wolle, und der Boden ist von Schneematsch dunkel verfärbt. Auf einer der Bänke sitzt ein Bauarbeiter, dessen Fuß in einer beschlagenen Plastiktüte steckt.
Joona wartet, bis Irma Goodwin aus dem Raum kommt, und folgt ihr den Flur hinab zu einem anderen Behandlungszimmer.
»Es ist das dritte Mal in drei Monaten, dass sie hier ist«, sagt die Ärztin.
»Sie müssen ihr einen Kontakt zu einem Frauenhaus vermitteln«, sagt Joona ernst.
»Längst geschehen. Aber was bringt das schon?«
»Das bringt etwas«, widerspricht Joona
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