Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
zweiten Schuss ab und sah im Zielfernrohr, dass ihre Kugel ihn nur einen Zentimeter über dem ersten Loch traf.
»Ich habe nur getan, was ich tun musste«, flüstert sie.
»Genau wie gestern.«
»Ja, aber ich habe nicht gewollt, dass du dafür bestraft wirst.«
Jurek stoppt das Band und bleibt, den Blick auf sie gerichtet, stehen.
»Ich habe hierauf gewartet … ziemlich lange sogar, muss ich sagen«, erklärt er. »Die Tür daran zu hindern, sich wieder zu schließen, war mir ein Vergnügen.«
»Ich konnte dich durch die Wand schreien hören«, sagt Saga leise.
»Ja, die Schreie«, erwidert er finster. »Ich habe geschrien, weil unser neuer Arzt mir eine Überdosis Cisordinol gespritzt hat … Das ist die Reaktion der Natur auf Schmerz … Es tut weh, und der Körper schreit, obwohl es sinnlos ist … und in diesem Fall auch unangemessen … Ich wusste ja, dass die Tür sich sonst geschlossen hätte …«
»Was für eine Tür?«
»Ich bezweifle, dass sie mich jemals mit einem Anwalt sprechen lassen, also ist diese Tür verschlossen … aber vielleicht gibt es ja andere.«
Er sieht ihr in die Augen. Sein Blick ist eigentümlich hell und erinnert sie an Metall.
»Du glaubst, dass ich dir helfen kann«, flüstert sie. »Deshalb hast du die Schuld dafür, was ich getan habe, auf dich genommen.«
»Ich kann nicht zulassen, dass dieser Arzt Angst vor dir bekommt«, erklärt er ihr.
»Warum nicht?«
»Jeder, der hier landet, ist gewalttätig«, antwortet Jurek. »Das Pflegepersonal weiß, dass du gefährlich bist, das steht in deinem Krankenblatt und im gerichtspsychiatrischen Gutachten … Aber das ist es nicht, was man sieht, wenn man dich anschaut …«
»Ich bin nicht besonders gefährlich.«
Obwohl sie nichts erzählt hat, was sie bereut – sie hat nur die Wahrheit gesagt und nichts enthüllt –, fühlt sie sich in seiner Gegenwart seltsam entblößt.
»Warum bist du hier? Was hast du getan?«, erkundigt er sich.
»Nichts«, antwortet sie kurz angebunden.
»Was hast du nach Ansicht des Gerichts getan?«
»Nichts.«
Der Anflug eines Lächelns blitzt in seinen Augen auf.
»Du bist eine echte Sirene …«
106
Athena Promachos, die geheime Ermittlungsgruppe in der Dachgeschosswohnung, lauscht den Gesprächen, die im Aufenthaltsraum geführt werden.
Joona steht neben dem großen Lautsprecher und lauscht einmal mehr Jurek Walters Stimme, seiner Wortwahl, Phrasierung, den Nuancen in Stimme und Atemzügen.
Corinne Meilleroux sitzt am Schreibtisch und tippt das Gespräch in ihren Computer ein, so dass alle die Wörter auf dem großen Bildschirm lesen können. Das gleichmäßige, klackernde Geräusch ihrer Fingernägel ist angenehm.
Nathan Pollocks silbrig grauer Pferdeschwanz fällt auf die Anzugweste. Er macht sich Notizen, während Johan Jönson auf seinem Bildschirm die Tonqualität überwacht.
Während des Gesprächs im Aufenthaltsraum sagt keiner ein Wort. Die Sonne scheint durch die gläsernen Balkontüren über schneebedeckte, glitzernde Dächer herein.
Sie hören Jurek Walter sagen, dass Saga eine echte Sirene sei, und wie er im Anschluss den Raum verlässt. Nach einigen Sekunden Stille lehnt Nathan Pollock sich auf seinem Stuhl zurück und klatscht Beifall. Corinne schüttelt beeindruckt den Kopf.
»Saga macht das wirklich fantastisch«, murmelt Nathan Pollock.
»Auch wenn wir nichts erfahren haben, was uns zu Felicia führen könnte«, bemerkt Joona und wendet sich langsam der Gruppe zu. »Aber sie hat den Kontakt hergestellt, das ist gute Arbeit … und ich glaube, dass er neugierig geworden ist.«
»Ich muss gestehen, dass ich mir ein bisschen Sorgen gemacht habe, als sie sich von dem anderen Patienten provozieren ließ«, meint Corinne, presst etwas Limettensaft in ein Glas Wasser und reicht es Pollock.
»Aber Jurek hat die Schuld für die Misshandlung absichtlich auf sich genommen«, sagt Joona nachdenklich.
»Ja genau, warum hat er das getan? Vielleicht hat er sie ja vorgestern gehört, als sie zu dem Pfleger meinte, sie wolle einen Anwalt treffen«, wirft Pollock ein. »Deshalb kann Jurek nicht zulassen, dass der Arzt Angst vor ihr hat, denn sonst wird sie keine Besucher empfangen dürfen und …«
»Er ist neu«, schneidet Joona ihm das Wort ab. »Jurek hat gesagt, der Arzt sei neu.«
»Was ist damit?«, fragt Johan Jönson mit offenem Mund.
»Als ich mit Brolin gesprochen habe, dem Oberarzt … das war letzten Montag, da meinte er, es habe keine
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