Der Schachspieler
Littman. »Sie war eben ein sehr ordentliches Mädchen. Na und?«
»Nur so ein Gedanke. Wann hat Ingram seine offizielle Aussage gemacht?«
»Am folgenden Nachmittag. Ich hab ihn erst mal in die Ausnüchterungszelle gesteckt, damit er zu sich kommt.«
»Hatte er einen Anwalt?«
»Natürlich. Ich glaube, Freunde haben ihm einen besorgt. Er selbst war ja gar nicht imstande zu telefonieren.«
»Erinnern Sie sich an den Anwalt?«
»Er hieß Leon Grotsworth. Kein schlechter Kerl – wenn man mal von seinem Beruf absieht. Aber Ingram beantwortete alle Fragen, mehrfach, und wich nicht von dem betrunkenen Gestammel ab, das er am Morgen vorher von sich gegeben hatte. Ganz simple Geschichte: Hab mich volllaufen lassen, hatte Sex, ging schwimmen, schlief ein, stand auf, um zu pinkeln und zu kotzen, konnte die Kleine nirgends finden, obwohl ihre Kleider noch da waren, stolperte durch die Gegend, um sie zu suchen, bekam die Panik und weckte die anderen auf .«
»Hat Schaeffer ihm den Anwalt besorgt?«
»Wie ich schon sagte, Schaeffer setzte sich sofort in sein Boot, um nach dem Mädchen zu suchen, gleich nachdem wir mit ihm gesprochen hatten. Ich glaube nicht, dass er Bret Ingram überhaupt kannte. Das waren alles verwöhnte reiche Bengel. Irgendeiner hat den Anwalt für ihn angerufen.«
»Ingram war nicht reich. Er kam dank seiner Noten und eines Stipendiums nach Princeton. Arbeitete nebenbei in der Schulbibliothek, um über die Runden zu kommen.«
»Hören Sie, Agent Cady, ich hab mir Ihre Fragen geduldig angehört. Ich muss in fünf Minuten zu einer Sitzung. Können wir das Ganze jetzt beenden?«
»Sie haben mir sehr geholfen, Sheriff. Eine letzte Frage noch. Sie haben gesagt, Freunde von Ingram hätten ihm den Anwalt besorgt. Erinnern Sie sich noch, welche das waren?«
»Da standen ein paar Leute um den Jungen herum, um ihn zu beruhigen. Zwei Brüder …« Der Sheriff brach mitten im Satz ab.
»Verflucht noch mal!«
»Sheriff?«
»Verflucht noch mal!«, wiederholte der Sheriff. »Sie arbeiten an dem Zalentine-Fall, stimmt’s?«
»Ja, Sir.«
»Ich hab Ihnen die Zusammenfassung und den pathologischen Befund geschickt, aber die vollständige Akte hab ich hier vor mir liegen. Wir haben jeden auf Schaeffers Party befragt. Moment, ich seh mal nach.« Cady hörte wieder Papier rascheln. »Herrgott! Das waren die beiden!«
»Ich habe schon gewusst, dass die Zalentines in der Nacht auf Schaeffers Party waren, Sheriff.«
»Ich erinnere mich noch an die gottverdammten Zwillinge, wie sie bei Ingram hockten, ihm Kaffee brachten und ihn trösteten. Aber wahrscheinlich trichterten sie ihm ein, was er sagen soll. Sie waren’s, die ihm den Anwalt besorgten.«
Cady schwieg.
»Es tut mir so leid, Agent Cady. Damals sah es einfach wie eine große Tragödie aus. Es kam mir gar nicht in den Sinn, Ingram richtig in die Mangel zu nehmen.« Und etwas kleinlaut fügte er hinzu: »Dann war ich wohl doch nicht so penibel.«
»Damals wusste noch niemand über die Zalentines Bescheid, Sheriff.«
»Ich sage Ihnen was, Agent Cady. Ich nehme mir Bret Ingram sofort vor. Und diesmal ohne Samthandschuhe. Ich finde heraus, was damals genau passiert ist.«
»Dafür ist es zu spät, Sheriff.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ingram ist tot.«
10
N achdem er den zusammenfassenden Ermittlungsbericht aus Bergen County erhalten hatte, hatte Cady sofort Agent Liz Preston daran gesetzt, so viel wie möglich über Bret Michael Ingram herauszufinden: woher er stammte, ob er je mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, was er gegenwärtig tat und was sonst noch von Interesse war. Das Gleiche ließ er sie bei Marly Kelchs Familie tun, um herauszufinden, ob da vielleicht ein Vater oder Bruder als Rächer unterwegs war.
Nicht einmal eine halbe Stunde später hatte ihn Agent Preston in seinem Büro aufgesucht.
»Er ist tot.«
»Das ist jetzt ein Scherz.« Die Feststellung war rein rhetorisch. Cady selbst machte selten Witze, doch im Vergleich zu Liz Preston war er ein Komödiant.
Ihre Oberlippe kräuselte sich. »Nein – es sei denn, es gibt noch einen anderen Bret Michael Ingram mit derselben Sozialversicherungsnummer und demselben Geburtsdatum, der zur selben Zeit in Princeton studiert hat.«
»Ermordet?«
»Nein. Er starb bei einem Brand in Minnesota, vor fast einem Jahr.«
»Minnesota?«
»Ja.«
»Ich will alles darüber wissen.«
Wie sich herausstellte, war Ingram noch einen Monat nach dem »Unfall« in Princeton geblieben, bevor er
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