Der Schachspieler
saß reglos da und erwartete das Urteil.
»Papa?«
»Ja.«
»Schau mich an, Papa«, sagte Lucy. »Du musst mir in die Augen schauen.«
Hartzell blieb das Herz im Hals stecken. Er hatte solche Angst, fühlte sich wie ein Pirat auf dem Weg zum Galgen. Noch nie war ihm etwas so schwergefallen, wie Lucy die Wahrheit zu sagen. Hartzell wandte sein Gesicht dem einzigen Menschen zu, den er je geliebt hatte. Sie hatte still geweint, während er seine Beichte ablegte, während sie sich anhören musste, dass ihr Vater ein Betrüger war. Hartzell sah, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Sie wischte sie nicht weg.
»Hör mir gut zu, Papa«, begann Lucy mit stählernem Blick. »Du wirst kein einziges Jahr hinter Gittern verbringen. Nicht jetzt. Nicht irgendwann. Und du wirst auch keinen Penny zurückgeben, nicht einen Cent. Sollen sie uns doch beide suchen.«
Hartzell spürte, wie ihn der Schock durchlief, dann eine Welle der Erleichterung und schließlich eine Sturmflut der Freude. Er wollte aufstehen und dem Himmel danken, doch dann kam ihm ein anderer Gedanke, der ihm erneut die Tränen in die Augen trieb.
Lucy war wahrhaftig sein Mädchen.
17
C ady blinzelte auf die Ziffern der Digitaluhr neben seinem Doppelbett, als sich das unangenehme Piepgeräusch in seine Ohren zu bohren begann. Es war 3.33 Uhr. Was soll das?, dachte er. Cady drückte unbeholfen auf Knöpfe und Schalter, während er im Stillen die Leute vom Zimmerservice verfluchte, die sich offenbar einen Scherz mit ihm erlaubt hatten: der ausgestreckte Mittelfinger für einen Gast, der kein Trinkgeld gab. Cady fand schließlich den richtigen Knopf, und das Piepen hörte auf. Er drehte sich auf die Seite und sank in den Schlaf zurück.
»Danke«, flüsterte eine Stimme vom anderen Ende des Zimmers. »Das war schon ein wenig nervig.«
Cady schreckte hoch, die Nerven wie Drahtseile gespannt. Instinktiv griff er nach seiner Waffe, die er, wenn er dienstlich unterwegs war, stets im Holster auf dem Nachttisch liegen hatte. Die Glock 22 war weg. Cady tastete nach der Lampe.
»Das würde ich nicht tun«, meinte die Stimme so beiläufig, als ob sie gerade eine Extraportion Krautsalat bestellte.
Cady fixierte die Gestalt auf dem Stuhl beim Fenster, schüttelte seine Benommenheit ab und zwang sich zur Konzentration. Soweit er das in der Dunkelheit erkennen konnte, trug der Eindringling einen Filzhut, wie in den alten Filmen. Dazu einen Trenchcoat oder eine lange Jacke und eine dunkle Hose.
»Es ist lange her, Agent Cady.«
Cady erstarrte. Er wusste, er war so gut wie tot. Er wusste, wer da auf dem Stuhl in seinem Hotelzimmer saß.
Der Chessman.
»Ich bin nicht mehr beim FBI.«
»Das hat sich wohl wieder geändert«, erwiderte die Stimme nun eine Spur lauter. »Warum wären Sie sonst in D. C.?«
Cady hatte Mühe, ihn zu verstehen, so laut klopfte sein Herz. Der Chessman sprach auffällig akzentfrei, wie ein Moderator im Fernsehen. Cady versuchte, die Größe des sitzenden Mannes abzuschätzen: Er saß aufrecht auf dem Stuhl, einen Fuß vor dem anderen, sein Hut etwa auf der Höhe des Fernsehers. Er muss mindestens eins fünfundachtzig sein, ein paar Zentimeter größer als ich , dachte Cady.
»Wir haben Sie für tot gehalten.«
»Die Berichte über meinen Tod sind stark übertrieben.«
Er war also belesen, zitierte Mark Twain.
»Warum haben Sie Kenneth Gottlieb umgebracht?«
»Wie geht’s Ihrer rechten Hand, Agent Cady?«
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
»Wir sind wohl ein bisschen gereizt?«
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich wollte sehen, ob Sie es sind. Ich kann schließlich nicht irgendwen als Partner akzeptieren, oder? Ich brauche einen, der ein paar graue Zellen hat.«
»Partner? Was zum Teufel reden Sie da?«
»Ich rede von dem, was hier läuft, Agent Cady. Jemand hat ein neues Spiel eröffnet.«
»Wer kann das wohl sein?«
»Ich habe damit jedenfalls nichts zu tun.«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
Der Chessman legte im Dunkeln den Kopf auf die Seite, wie um zu sagen: Was soll’s .
»Der Typ hätte nicht meine Visitenkarte hinterlassen sollen«, sagte die leise Stimme schließlich. »Er muss sich darauf gefasst machen, dass ich ins Spiel eingreife.«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Cady noch einmal.
Die dunkle Gestalt bewegte sich. Der Chessman streckte den Arm aus und richtete etwas auf Cadys Stirn.
»Sie haben sechzig Sekunden, Special Agent Cady, um zu zeigen, was Sie können. Sonst werde ich Ihre grauen Zellen aus
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