Der Schachspieler
Sorgen geplagt. Was ihn quälte, war nicht die Angst, die Finanzaufsicht könnte ihm auf die Schliche kommen. Ihm war immer klar gewesen, dass es nicht ewig so weitergehen würde, deshalb hatte er für diesen Tag vorgesorgt. Nein, was Hartzell wirklich den Schlaf raubte und ihn im vergangenen Monat fast zehn Kilo hatte abnehmen lassen, war die Frage, wie er seiner Tochter – dem einzigen Menschen auf der Welt, den er wirklich liebte – die Wahrheit sagen sollte.
Hartzell hörte den Schlüssel im Schloss. Die Tür öffnete sich und wurde wieder geschlossen. Leise Schritte auf dem Parkettboden.
Lucy war nach Hause gekommen.
15
Gegenwart
W er hat meine Tochter umgebracht, Agent Cady?« Dorsey Kelch war die Erste, mit der Cady sprach, seit er den Chessman-Fall neu untersuchte. Er hatte die Frau am Morgen angerufen und gefragt, ob er sie in ihrem einstöckigen Haus in Reading, dem Verwaltungssitz des Berks County in Pennsylvania, besuchen dürfe, um mit ihr über ihre Tochter Marly zu sprechen. Mrs. Kelch hatte Cady freundlich empfangen, aber ihr Dackel Rex schien ihn nicht zu mögen und musste umgehend in den Garten verbannt werden. Der Hund protestierte kurz an der Küchentür und legte sich dann unter den Picknicktisch. Mrs. Kelch servierte Cady eine Tasse grünen Tee und Haferkekse, während er Marlys alte Highschooljahrbücher und Fotoalben durchblätterte und die Namen von ehemaligen Freunden in sein Notizbuch kritzelte.
»Ich würde Ihnen gern mehr sagen, Mrs. Kelch, aber mein Besuch hat mit aktuellen Ermittlungen zu tun. Wir überprüfen noch einmal alle Fakten, wie ich bereits am Telefon erwähnte.«
»Wie ist meine Tochter wirklich gestorben, Agent Cady?«
»Solange es keine handfesten Beweise für etwas anderes gibt, gehen wir davon aus, dass sie ertrunken ist. Es wäre unredlich von mir, Ihnen von irgendwelchen Mutmaßungen zu erzählen.« Cady hasste sich dafür, dass ihm keine bessere Formulierung einfiel, weil er die Frau in ihrer Zurückgezogenheit störte und alte Wunden aufriss, doch was er ihr sagte, war die Wahrheit – zumindest die Kurzform.
»Erinnern Sie sich noch, als Sie vor einigen Jahren kamen und mich nach Marlys womöglichem Verhältnis mit Bret Ingram fragten?«
»Ja.«
»Ich habe Sie angerufen, als ich in den Nachrichten hörte, dass Dane Schaeffer seine alten Freunde von Princeton einen nach dem anderen umgebracht hatte, aber Sie waren nicht da. Es hieß, Sie wären aus gesundheitlichen Gründen beurlaubt.«
Cady ballte unbewusst die Finger der rechten Hand zur Faust. »Ich hatte einige Monate Physiotherapie.«
Dorsey Kelch schaute ihn fragend an, doch Cady schwieg.
»Dann rief ich Sheriff Littman in Bergen County an. Er erzählte mir fast genau das Gleiche wie Sie jetzt. Es gibt keine Hinweise, die etwas anderes vermuten lassen … blablabla.«
»Nach allem, was Sie durchgemacht haben, möchte ich Sie nicht mit irgendwelchen Spekulationen belasten, Mrs. Kelch. Und mehr wäre es einfach nicht.«
»Blablabla«, wiederholte Dorsey Kelch. »Vor dreizehn Jahren stirbt mein einziges Kind durch einen schrecklichen Unfall auf einer schrecklichen Party, aber ich habe meinen Glauben an Gott nicht verloren und gelernt, damit zu leben. Zehn Jahre vergehen, da tauchen Sie plötzlich auf und fragen mich, ob Marly etwas mit diesem Ingram-Jungen hatte und ob sie die Zalentines kannte. Ich hatte noch nie von Bret Ingram gehört, bis mir die Polizei mitteilte, dass meine Tochter tot ist – der schlimmste Tag in meinem Leben –, und ich hatte auch noch nie von den Zalentine-Zwillingen gehört, bis ich in der Zeitung las, dass sie diese armen Mädchen ertränkt hatten. Und da stellt sich heraus, dass diese Zalentines in der Nacht, als meine Tochter bei einem Unfall ertrank , auch am Snow Goose Lake waren. Und jetzt, drei Jahre später, sitzen Sie wieder in meinem Wohnzimmer und notieren sich die Namen aller Jungs, die Marly vielleicht einmal angeschaut hat. Ich frage Sie noch einmal, Agent Cady: Wer hat meine Tochter umgebracht?«
»Es deutet alles darauf hin, dass Dane Schaeffer aus irgendeinem Grund nicht nur die Zalentines umgebracht hat, sondern auch ihren Anwalt und dessen guten Freund Patrick Farris. Leider ist das alles, was wir bisher wissen. Ich verstehe gut, dass Sie skeptisch sind, Mrs. Kelch. Hat es Dane Schaeffer getan, weil er einfach nicht vergessen konnte, was mit Marly geschehen ist? War er selbst in die Sache verwickelt, oder war alles ganz anders? Ich weiß
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