Der Schädelschrank
Mitte des Oberteils existierte noch eine Tür. In deren Schloss steckte ein Schlüssel.
Sabrina schluckte ihren säuerlich schmeckenden Speichel. Sie zog den Kopf ein. Im Hals spürte sie ein Kribbeln, und ihre Beine wurden noch schwerer.
»Komm weiter, ich halte dich fest. Du möchtest doch deinen lieben Bruder in die Arme schließen.«
»Ja, Rene wird warten und...«
»Sicher wartet er.«
Sabrina spürte zwei Hände im Rücken. Der Druck schob sie noch näher an die Tür heran, und sie musste jetzt nur noch einen Schritt gehen, um den Raum zu betreten.
Auch den tat sie.
Volle Sicht!
Rene war da. Aber er saß nicht, er kam auch nicht, um sie in die Arme zu schließen, denn das war nicht möglich, da er nackt und blutend vor den Füßen des Henkers lag. Sein Kopf lag einen halben Meter vom Rest des Körpers entfernt!
***
Wie viel kann ein Mensch vertragen, ohne durchzudrehen?
Sabrina wusste es nicht. Sie stand auf dem Fleck. Sie starrte nach vorn, sie sah das Grauen, und sie wusste, dass all ihre Ausreden und Lügen nichts gebracht hatten.
Der Inquisitor war schneller gewesen. Wie hätte sie auch hoffen können, ihn zu überlisten?
Er stand noch immer so mickrig und klein in ihrer Nähe. Dabei hörte sie seinen pfeifenden Atem und auch sein leises Lachen, denn er kostete den Triumph aus. »Ist er das?«
Sabrina empfand die Frage als den nackten Hohn. Natürlich war er das! Aber was sollte sie darauf antworten? Sie fand keine Worte. Das Entsetzen hatte ihren Hals bis hoch zur Kehle zugeschnürt.
Der Inquisitor umfasste ihren rechten Arm in Höhe des Ellbogens. »Ich habe dir eine Frage gestellt. Ist er das?«
Sie konnte nur nicken. Ihr Kopf war schwer, und sie fürchtete, zu fallen, als sie diese Bewegung machte.
Der Inquisitor trieb sein Spiel weiter. »Du kennst ihn doch. Oder etwa nicht?«
Sabrina hob nur die Schultern.
»Dann will ich dir sagen, ob du ihn kennst. Amos Burke hat ihm seine Fragen gestellt, und wir haben sogar Antworten bekommen. Er heißt wirklich Rene, aber er hat keine Schwester, das hat er uns auch deutlich erklärt. Es gibt diesen Bruder nicht. Du hast diese verwandtschaftliche Beziehung erfunden, Schönheit. Du hast sie nur erfunden, um deinen Galan zu retten. Aber da hast du dich verrechnet. Es gibt keinen Menschen, der mich hier hintergehen kann. Und wenn es jemand versucht, hat er Pech gehabt. Mich lügt man einfach nicht an. Das hasse ich. Keine Lügen, und wer es trotzdem versucht, der muss die Folgen auch tragen. Wusstest du das nicht?«
»Doch.«
»Da bin ich aber froh«, zischte er. »Und du hast dich trotzdem nicht an das Gebot gehalten. Du hast versucht in Lügen auszuweichen. So etwas ist schlimm, Schönheit. Ich lasse mich nicht betrügen, verstehst du? Ich habe hier die Macht, die mir der Himmel zugeteilt hat. Nein, vor mir muss man Achtung haben, und ich hasse es, wenn man mich hintergehen will. Dabei ist es egal, wer es versucht. Irgendwann ist auch meine Geduld am Ende – und damit dein Leben!«
Sabrina hatte alles gehört. Beim Sprechen hatte der Inquisitor dicht neben ihr gestanden, und dennoch war bei ihr der Eindruck entstanden, dass er sich weit weg befand. Sie kam sich vor, als stünde sie neben sich. Die Wirklichkeit, die sie sah, verschwamm vor ihren Augen. Der Schrank verwandelte sich in einen schwankenden Klumpen. Dass sie überhaupt noch auf den eigenen Füßen stand, kam ihr wie ein Wunder vor, und sie merkte kaum, dass sie von der Hand des Inquisitors festgehalten wurde.
»Ja, Schönheit, ich weiß, dass es nicht leicht ist, das Leben zu begreifen, aber es ist nun mal so. Wer mich betrügt, der wird seine Strafe erhalten. Aber ich weiß auch, dass du mir köstliche Stunden bereitet hast, und so werde ich bei dir nicht vorgehen wie bei deinem angeblichen Bruder, der wirklich ein Sänger war. Nein, ich vergebe dir in gewissen Teilen.«
Sabrina hatte jedes Wort gehört. Plötzlich keimte wieder so etwas wie Hoffnung in ihrem Innern auf. Vielleicht war das der Weg zur Verzeihung, den ihr der Inquisitor angeboten hatte. Wenn sie ihm versprach, alles für ihn zu tun und vielleicht noch etwas mehr, dann würde er seine Meinung möglicherweise ändern.
»Dir geht es schlecht, nicht? Ja, ja, das kann ich verstehen. Aber ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, denn ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie fragte nicht, was sie zu sehen bekam. Sie tat einfach nur das, was er wollte. Der kurze Ruck am Arm sagte ihr, dass sie gehen sollte. Der erste
Weitere Kostenlose Bücher