Der Schakal
seines stummen Zwiegesprächs mit sich selbst murmelte Rodin: »Ein Mann, den keiner kennt…« Er überflog die Liste derjenigen, von denen er wußte, daß sie nicht davor zurückschrecken würden, einen Präsidenten zu ermorden. Über jeden einzelnen von ihnen existierte im französischen Polizeiministerium eine Akte, die so dick war wie die Bibel. Weshalb würde er, Marc Rodin, sich sonst in einem obskuren österreichischen Gebirgsdorf versteckt halten?
Gegen Mittag hatte er dann plötzlich die Lösung gefunden. Er verwarf sie zunächst, kam aber doch immer wieder auf sie zurück. Wenn sich ein solcher Mann finden ließe - sofern es ihn überhaupt gab… Mit verbissener Geduld begann er, einen neuen, auf diesen Mann zugeschnittenen Plan auszuarbeiten, den er dann einer scharfen, alle nur denkbaren Hindernisse und Einwände berücksichtigenden Prüfung unterzog. Der Plan bestand sie und erwies sich, selbst was das Problem der Sicherheit betraf, als hieb und stichfest.
Kurz bevor die Mittagsstunde schlug, zog sich Rodin den Wintermantel über und ging hinunter. Vor der Haustür traf ihn der Wind, der die Straße entlangfegte, mit voller Wucht. Er ließ Rodin zusammenfahren, befreite ihn jedoch augenblicklich von den dumpfen Kopfschmerzen, die ihm die zahllosen in dem überhitzten Zimmer gerauchten Zigaretten verursacht hatten. Er wandte sich nach links und stapfte durch den knirschenden Schnee zum Postamt in der Adlerstraße. Dort gab er eine Reihe kurzgefaßter Telegramme auf, in denen er seine sich unter Decknamen in Süddeutschland, Österreich, Italien und Spanien verbergenden Gesinnungsfreunde davon unterrichtete, daß er sich in den folgenden Wochen auf eine geheime Mission begeben und daher für sie vorübergehend nicht erreichbar sein würde.
Auf dem beschwerlichen Rückweg zu seiner bescheidenen Unterkunft wurde ihm klar, daß manche seiner Kameraden jetzt glauben mochten, auch er wolle sich nur verdrücken und vor der drohenden Entführung oder Ermordung durch den Aktionsdienst in Sicherheit bringen. Er zuckte mit den Achseln. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Zu langatmigen Erklärungen war jetzt keine Zeit mehr.
Obschon die im indochinesischen Dschungel und in der algerischen Wildnis verbrachten Jahre seinen Geschmack nicht gerade kultiviert hatten, fiel es ihm schwer, das Tagesgericht der Pension - Eisbein mit Nudeln - hinunterzubringen. Am frühen Nachmittag hatte er Koffer und Aktentasche gepackt, die Rechnung bezahlt und das Haus verlassen. Er war bereit, sich in einsamer Mission auf die Suche nach einem bestimmten Mann - genauer: dem ganz bestimmten Typ eines Mannes - zu begeben, von dem er nicht einmal wußte, ob es ihn überhaupt gab.
Als Rodin den Zug bestieg, schwebte eine Comet 4 B in die auf Landebahn null-vier des Londoner Airport zuführende Flugschneise ein. Die Maschine kam aus Beirut. Unter den Passagieren befand sich ein hochgewachsener, blonder Engländer. Sein Gesicht wies eine von der Sonne des Nahen Ostens herrührende Bräune auf. Nach den zwei Wochen, in denen er die unbestreitbaren Freuden des Libanon genossen und das für ihn sogar noch erfreulichere Vergnügen gehabt hatte, die Transferierung eines ansehnlichen Geldbetrags von einer Bank in Beirut auf eine andere in der Schweiz bestätigt zu erhalten, fühlte er sich ungemein fit und entspannt.
Weit, weit hinter ihm im sandigen Boden Ägyptens und lange schon begraben von der ebenso empörten wie ratlosen ägyptischen Polizei, lagen die Leichen zweier deutscher Raketeningenieure, beide mit einem sauberen Einschußloch im Genick. Ihr Hinscheiden hatte die Entwicklung der Al-Zafira-Rakete Nassers um einige Jahre zurückgeworfen und einem zionistischen Millionär in New York zu der angenehmen Gewißheit verhelfen, sein Geld nicht umsonst ausgegeben zu haben.
Nachdem der Engländer die Zollkontrolle rasch passiert hatte, nahm er sich ein Taxi und fuhr nach Mayfair in seine Wohnung.
Rodins Suche endete erst nach neunzig Tagen, und alles, was er vorzuweisen hatte, waren drei schmale Dossiers, jedes in einem der Schnellhefter steckend, die er ständig in der Aktentasche mit sich führte.
Es war Mitte Juni, als er nach Österreich zurückkehrte und sich in Wien in der Pension Kleist, Brucknerallee, ein Zimmer mietete.
Auf der Wiener Hauptpost hatte er zwei kurze Telegramme aufgegeben, eines nach Bozen, das andere nach Rom, um seine beiden engsten Mitarbeiter zu einer dringenden Besprechung zu zitieren. Innerhalb von
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