Der Schatten erhebt sich
Erdbodens, als wären dort einst Bäume gewachsen. Auch große Brunnen mit Statuen standen hier und dort. An den Straßen entlang zogen sich riesige Gebäude, eigenartige Paläste aus Marmor und Kristall und geschliffenem Glas, die Hunderte von Fuß emporragten, entweder in Stufenform gebaut oder in einem Stück mit endlos scheinenden, senkrechten Wänden. Kein einziges kleines Gebäude war zu sehen, nichts, was auf eine einfache Taverne oder Schenke oder einen Stall schließen ließ. Nur enorme Paläste mit schimmernden, fünfzig Fuß dicken Säulen in Rot oder Weiß oder Blau, die Hunderte Schritt hoch, oder mit runden oder spiralförmig gebauten Türmen darauf, von denen einige in die glühenden Wolken über ihnen hineinstachen.
Trotz all ihrer Pracht war der Bau dieser Stadt niemals beendet worden. Viele der riesigen Gebäude endeten abrupt wie verlassene Rohbauten. In einigen der hohen und breiten Fenster glänzten bunte Glasbilder: ernste und majestätische Männer und Frauen, dreißig Fuß hoch und mehr, oder Sonnenaufgänge und dann wieder sternenübersäte Nachthimmel. Die meisten Fensteröffnungen allerdings waren leer. Unvollendet und schon lange verlassen. In keinem der Brunnen plätscherte Wasser. Schweigen lag über der Stadt, genauso wie jener erdrückende Nebeldom. Die Luft war kühler als außerhalb, jedoch genauso trocken. Der Staub auf den hellen, glatten Pflastersteinen knirschte unter seinen Stiefelsohlen.
Trotzdem trabte Mat hinüber zum nächsten Brunnen. Es konnte ja vielleicht doch sein... Er beugte sich über die hüfthohe, weiße Umrandung. Drei unbekleidete Frauen, alle doppelt so groß wie er, hielten mit ihren Steinköpfen einen eigenartigen Fisch mit breitem Maul hoch und spähten dabei hinunter in ein weites, staubiges Bassin, das genauso trocken war wie sein Mund.
»Natürlich«, sagte Rand hinter ihm. »Ich hätte gleich daran denken sollen.« Mat sah sich nach ihm um. »Woran hättest du denken sollen?« Rand blickte den Brunnen an und schüttelte sich in lautlosem Lachen. »Beherrsche dich bitte, Rand. Du bist doch nicht innerhalb einer Minute übergeschnappt. Also, woran hättest du nun denken sollen?« Ein hohles Gurgeln ließ Mats Blick zum Brunnen zurückhuschen. Mit einemmal strömte Wasser aus dem Fischmaul. Der Strahl war so dick wie sein Oberschenkel. Er kletterte in das Bassin und stellte sich mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund unter den Schwall. Kaltes, herrliches Wasser, kalt genug, um ihn zum Zittern zu bringen, und süßer als Wein. Es durchtränkte sein Haar, seinen Mantel, seine Hose. Er trank, bis er nicht mehr konnte, taumelte schließlich unter dem Strahl hervor und lehnte sich an ein steinernes Frauenbein.
Rand stand immer noch da und sah den Brunnen an. Sein Gesicht war rot, die Lippen aufgesprungen, und er lachte leise. »Kein Wasser, Mat. Sie sagten, wir könnten kein Wasser mitnehmen, aber sie sagten nichts von dem, was hier zu finden war.« »Rand. Willst du nichts trinken?« Rand fuhr zusammen, und dann stieg er in das mittlerweile knöcheltief gefüllte Bassin. Er platschte hinüber, wo Mat gestanden hatte, und trank genau wie der zuvor mit geschlossenen Augen und hochgerecktem Gesicht. So ließ er das Wasser über sich strömen.
Mat beobachtete ihn besorgt. Übergeschnappt war er nicht, noch nicht. Aber wie lang hätte Rand noch durstig mit ausgetrockneter Kehle, aber lachend dagestanden, wenn er ihn nicht angesprochen hätte? Mat ließ ihn stehen und kletterte hinaus. Etwas Wasser aus seinen durchtränkten Kleidern war ihm in die Stiefel gelaufen. Er ignorierte die Nässe und die Geräusche bei jedem Schritt; er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder in seine Stiefel käme, wenn er sie einmal ausgezogen hatte. Seine Füße waren zu stark angeschwollen. Außerdem war es ein angenehmes Gefühl.
Er blickte sich in der Stadt um und fragte sich, was er eigentlich hier tat. Diese Leute, dieses Schlangenvolk, hatte behauptet, er würde sonst sterben, aber reichte es denn bereits, sich in Rhuidean aufzuhalten? Muß ich irgend etwas tun? Und was?
Die halbfertigen Paläste warfen in dem blaßblauen Lichtschein keinen Schatten auf die breiten Straßen. Zwischen seinen Schulterblättern juckte es. All diese leeren Fensteröffnungen, die ihn anstarrten, all diese zahnlückigen, unvollendeten Dächer. Dort drinnen konnte sich alles verbergen. An einem Ort wie diesem konnte es alles Mögliche geben... Alles verflucht Mögliche! Er wünschte sich
Weitere Kostenlose Bücher