Der Schatten im Norden
Jim sprang behände wie ein Affe auf
die Fensterbank.
»Alles klar, Sally?«, rief er nach unten.
Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren wie eine
Theaterszene erleuchtet, und die Schar der Schaulustigen
wurde ständig größer. Sally erreichte den Bürgersteig
und bestätigte, dass sie heil unten angekommen sei.
»Nun aber los, Ellie«, trieb Jim das Mädchen an. »Jetzt
sind wir dran. «
Sie stellte sich neben ihn aufs Fensterbrett.
»Na dann --- halte dich gut fest --- ich lasse mich jetzt
ein Stück nach unten und gebe dir Raum - schau, prima
Leinen, das reißt nicht, habe ich aus einem guten Hotel
mitgehen lassen --- so ists gut --- braves Mädchen ---«
Seine Stimme wurde schwächer. Webster wartete oben.
Am Fuß der letzten Treppe, die ins Dachgeschoss
führte, musste Frederick einhalten, denn der Boden
neigte sich. Oder wenigstens schien es so, als neigte er
sich. Der ganze Bau knarrte wie ein Schiff in stürmischer
See. Eine dumpfe Explosion kam drüben vom Atelier.
»Chemikalien«, dachte Frederick, »hoffentlich ist Sally
schon draußen -«
Doch er schob sich im Dunkeln weiter die heiße,
schwankende Treppe hoch. Oder war er es, der
schwankte? Es war wie im Traum. Oben angekommen,
war es viel ruhiger, so als ob der Brand hundert Meilen
entfernt wäre.
Das Atmen fiel ihm schwer. Die Kräfte schwanden ihm
von Minute zu Minute; ihm war, als entwichen sie aus
ihm wie Blut. Vielleicht war es tatsächlich Blut. Er erhob
die Hand und schlug gegen Isabels Tür.
»Nein!«, kam es gedämpft zurück. »Lassen Sie mich in
Frieden. « »So machen Sie doch wenigstens die Tür auf«,
bat er sie. »Ich bin verletzt und kann Sie nicht mit Gewalt
zwingen. « Er hörte, wie ein Schlüssel im Schloss
gedreht und dann ein Stuhl weggezogen wurde. Sie
öffnete: So wie sie im Kerzenschein vor ihm stand, im
Nachthemd und mit aufgebundenem Haar, hatte er
wieder das Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen.
»Oh! Was ist mit Ihnen passiert?«, schrie sie auf und trat
beiseite, um ihn einzulassen.
»Isabel --- Sie müssen kommen --- wir haben nicht
mehr viel Zeit«, drängte er.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Es wird bald vorüber sein.
Ich komme nicht mit. Sie waren so freundlich zu mir.
Wohin sollte ich denn fliehen?«
Sie setzte sich aufs Bett. Um sie herum lagen ein
Dutzend Blätter verstreut, allem Anschein nach Briefe,
die mit einer dunklen, energischen Handschrift
geschrieben waren. Sie merkte, was seine
Aufmerksamkeit anzog.
»Ja«, bestätigte sie, »das sind seine Briefe. Darin zu
lesen hat mich glücklicher gemacht als alles sonst auf der
Welt. Und es wird nichts Besseres geben, selbst wenn ich
hundert Jahre alt würde. Aber wenn ich weiterlebte,
worauf sollte ich mich noch freuen? Einsamkeit,
Schmerz und Verbitterung, das wäre mein Los... Nein,
nein, bitte lassen Sie mich allein. Aber Sie müssen
gehen... Wegen Sally... «
Ihre Augen glänzten, ihr ganzes Gesicht leuchtete. In
Frederiks Kopf begann alles zu schwimmen, er musste
sich an der Kommode festhalten, um nicht
zusammenzubrechen. Ihre Worte kamen wie von fern,
aber dennoch deutlich zu ihm.
»Isabel, seien Sie doch nicht so dumm, kommen Sie,
helfen Sie mir wenigstens hinunter, wenn Sie schon nicht
selbst kommen wollen. Alle anderen sind schon draußen.
Das Haus kann jeden Augenblick einstürzen. Ich werde
nicht eher gehen, bis Sie gehen. « »Oh, Sie sind so
dickköpfig --- das ist doch Wahnsinn --- ist er denn
gegangen?«
»Ja, ich sagte doch, alle sind schon draußen. So
kommen Sie doch in Gottes Namen. «
Mit ihren geröteten Wangen wirkte sie so aufgeregt wie
ein Mädchen, das sich auf seinen ersten Ball freut, oder
wie eine Braut... « Er fürchtete fast, schon tot zu sein,
und die Szene vor seinen Augen wäre nur noch ein
Traum seiner Seele. Sie sprach nicht mehr, aber er hörte
es nicht. In seinen Ohren war ein Rauschen und Dröhnen
wie von Feuer --- vielleicht war es auch wirklich das
näher rückende Feuer --- und auch dieses Stockwerk
begann nun zu knacken und zu ächzen.
Er riss die Vorhänge beiseite und schob das Fenster auf.
Das Zimmer ging wie das darunter liegende
Treppenfenster auf die Straße. Wenn man von hier
hinunterspringen würde, vielleicht... Er wandte sich zum
Bett zurück. Sie hatte sich mit ausgebreiteten Armen
hingelegt. Sie sah ihn an, das Haar war ihr sanft über
Wangen und Mundpartie gefallen, so dass nur ihre Augen
und ihre makellose Stirn zu sehen waren. Er merkte
jedoch, dass sie lächelte. Sie schien
Weitere Kostenlose Bücher