Der Schatten im Norden
von
Kameras, die auf einem fahrbaren Untersatz an einem
festgesetzten Punkt vorbeigezogen und in rascher Folge
ausgelöst werden sollten. Auf diese Weise konnte die
Bewegung eines Gegenstands an dem besagten Punkt
fotografisch festgehalten werden. Die Idee,
Bewegungsabläufe zu fotografieren, lag damals in der
Luft; viele experimentierten mit den unterschiedlichsten
Techniken, aber keinem war bisher der Durchbruch
gelungen. Webster glaubte, dass er zumindest einen Teil
der Antwort mit seiner Kamera auf Schienen gefunden
hatte. Charles arbeitete an lichtempfindlicheren
Emulsionen, um die Belichtungszeit zu verkürzen. Wenn
es ihnen gelänge, ein Negativ auf Papier statt auf einer
Glasplatte zu erzeugen, könnten sie eine Rolle mit
sensibilisiertem Fotopapier hinter eine Linse bringen und
das Gleiche tun, nur ohne fahrbare Kamera.
Voraussetzung war jedoch, einen hinreichend exakten
Mechanismus zu konstruieren, der das Papier weiterzieht,
ohne dass es reißt. Gelänge ihnen das, könnten sie das
neue Atelier für das, wie Charles es nannte, Stroboskop
oder Lebensrad verwenden. Sie hatten noch viel zu tun.
Sally und Mr. Blaine ließen die beiden anderen weiter
fachsimpeln und gingen wieder nach drinnen, um sich ein
genaueres Bild von der anfallenden Arbeit in der
Buchhaltung zu machen.
Am frühen Nachmittag desselben Tages saß Lord
Wythams Tochter Lady Mary im Wintergarten des
Hauses am Cavendish Square. Für einen Wintergarten
war dieser Bau aus Glas und Gusseisen eigentlich zu
groß, aber er enthielt Palmen, seltene Farne und
Orchideen sowie einen Teich, in dem schwarze Fische
träge ihre Kreise zogen. Lady Mary war in Weiß: ein
hochgeschlossenes festliches Seidenkleid, darüber ein
enges Perlenhalsband und alles in makellosem Weiß wie
bei einem Jungfrauenopfer. Sie saß in einem Korbsessel
vor einem großen Farn. In ihrer Hand lag ein Buch, doch
sie las nicht darin.
Es war ein kalter, trockener Tag. Die Glasscheiben und
das viele Grün filterten das Licht und gaben dem
Wintergarten den Anstrich eines Aquariums. Von ihrem
Platz aus sah Lady Mary nur Pflanzengrün, hörte nur das
Plätschern des Wassers, das den Teich speiste, und ab
und zu ein Gurgeln aus den Heizungsrohren, die sich an
den Wänden entlangzogen.
Lady Marys Schönheit entsprach nicht der Mode. Der
Zeitgeschmack bevorzugte Frauen, die wie Sofas gebaut
waren und Gediegenheit, Komfort und üppige Füllung
versprachen, während Lady Mary eher wie ein
Waldvogel oder eine junge Gazelle wirkte - schlank und
feingliedrig, mit dem warmen Teint ihrer Mutter und den
großen, grauen Augen ihres Vaters. Sie war ganz Zartheit
und verhaltenes Feuer; und sie hatte schon entdeckt, dass
ihre Schönheit ein Fluch war.
Sie verstörte andere Menschen. Selbst abgebrühte
Charmeure, viel versprechende junge Männer aus den
feinsten Kreisen, fühlten sich in ihrer Gegenwart
unsicher, tollpatschig und schmutzig und waren um
Worte verlegen. Bereits in Jungmädchenjahren hatte sie
intuitiv erkannt, dass sie durch ein Übermaß an Schönheit
Liebe nicht weckte, sondern tötete. Schon lag ein
Schatten von Tragik in ihren wolkengrauen Augen. Das
anstehende Verlöbnis bestätigte nur diesen Hang. Die
Tür ging auf und ein Diener meldete: »Mr. Bellmann,
Mylady. « Axel Bellmann kam im grauen Straßenmantel
herein und verbeugte sich leicht. Lady Mary lächelte dem
Diener zu. »Vielen Dank, Edward«, sagte sie.
Der Diener zog sich zurück, und die Tür ging leise
wieder zu. Lady Mary saß still am Rand des Fischteichs,
die Hände im Schoß gefaltet, so ruhig und weiß wie die
Wasserlilie neben ihr im Teich. Bellmann hustete diskret;
unter den Palmen des Wintergartens klang es wie das
sanfte Knurren des Leoparden, der sich anschickt, auf
den Rücken einer Gazelle zu springen. Er näherte sich
und sprach sie an. »Darf ich Ihnen einen guten Tag
wünschen?« »Ich sehe keinen Grund, der dagegen
spräche. « Er lächelte. Er stand zwei oder drei Schritte
von ihr entfernt, die Hände auf dem Rücken verschränkt,
während ein Strahl der blassen Nachmittagssonne die
eine Hälfte seines breiten Gesichtes erleuchtete.
»Sie sehen bezaubernd aus«, sagte er.
Sie antwortete nicht sofort, sondern zupfte ein Stück des
über ihr hängenden Palmblatts ab und zerrieb es mit den
Fingernägeln. »Danke«, hauchte sie schließlich.
Er griff sich einen Stuhl und setzte sich neben sie. »Sie
möchten sicherlich erfahren, welche Pläne ich für unser
Eheleben habe«, erklärte er.
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