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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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der beachtete sie gar nicht. »Sackville, mein Guter,
schau dich weiter um. Hier muss es noch Kleider,
Nachthemden, Unterröcke und anderen Weiberkram
geben. Zerreiß das Zeug. Lass dich durch die Gegenwart
der Damen nicht stören. Ihre spitzen Schreie sollen ein
Zeichen für dich sein, dass du dein Werk verrichtest wie
ein tapferer britischer Leibgardist!« Und obwohl beide
Frauen versucht hatten, ihn daran zu hindern (aber Mrs.
Elphick wurde beiseite gestoßen und Isabel fast
bewusstlos geschlagen), vernichtete Sackville binnen
fünf Minuten den Fleiß jahrelanger Arbeit: Kleider und
Nachthemden, Taufkleider aus Batist, mit zartesten
Stickereien verziert, auch Artikel für ihre Stammkunden,
Spitzenhandschuhe, Schals, Taschentücher, bestickte
Blusen, plissierte Witwenhauben und hauchdünne
Musselinunterröcke. Ihre ganze Ware wurde aus dem
Seidenpapier gezerrt und in Stücke gerissen.
Am Ende warf sich Isabel in einen Sessel und
schluchzte verzweifelt. Mrs Elphick beobachtete zitternd,
wie Sackville den großen schneeweißen Wäschehaufen
in den Kamin warf.
Dann öffnete Mr. Harris die letzte Schublade, an der er
sich noch nicht zu schaffen gemacht hatte, und holte ein
kleines, mit Japanlack überzogenes Kästchen hervor. Er
schüttelte es, doch es war leicht und gab keinen Klang
von sich.
lsabel war sogleich aufgesprungen. »Nein«, sagte sie.
»Ich --- ich sage Ihnen, wo Sie ihn finden können. Nur
bitte rühren Sie das nicht an. Bitte stellen Sie es zurück.
Bitte. « »Aha!«, rief Mr. Harris triumphierend. »Da
haben wir das Herzblatt. « Er versuchte den Deckel
aufzumachen, doch er war verschlossen. »Nun gut. Sagen
Sie mir, wo er ist, dann können Sie das Kästchen
behalten. Wenn nicht, wird unser Sackville schon eine
Verwendung dafür finden. « Sie streckte die Hand
danach aus, doch er hielt es zurück. Sie konnte den Blick
nicht davon lassen. Blass, schwach und zitternd sagte sie
mit unsicherer Stimme: »Er tritt morgen Abend in der
Royal Music-Hall in High Holborn auf. Bitte --- Sie
werden ihm doch nicht wehtun?«
Er gab ihr das Kästchen, das sie sogleich an ihren Busen
presste. »Ihm wehtun --- ja, darüber habe nicht ich zu
entscheiden. Ich kann dem Rad des Schicksals nicht in
die Speichen greifen. Das Royal in High Holborn --- ja,
das kenne ich. Da, Sackville. « Mr. Harris gab ihm eine
Schachtel Streichhölzer. »Nun könnten Sie vielleicht auf
den Gedanken kommen, kaum sind wir weg,
loszutrippeln und ihn zu warnen. Ich würde das an Ihrer
Stelle nicht versuchen. Jetzt halte ich Sackville noch an
der Leine, aber wehe, wenn ich ihn losließe. An Ihrer
Stelle also würde ich stillhalten und nichts sagen. «
»Aber warum? Was wollen Sie mit ihm machen? Was
hat er Ihnen denn getan?«
»Oh, mir persönlich rein gar nichts. Aber mein Chef
will mit ihm reden wegen einer dringenden
Familienangelegenheit. Habe ich schon gesagt, dass ich
Rechtsanwalt bin? So etwas Ähnliches jedenfalls. Sie
halten jetzt besser Abstand, denn in einer Minute werden
Flammen aus dem Kamin schlagen. Das könnte
gefährlich werden. Er und ich, wir verabschieden uns
gleich. Ich nehme doch an, dass Sie uns dankbar für die
deutlichen Worte sind. Vielleicht denken Sie auch daran,
mir die aufgewendete Zeit und Sackville die Anstrengung
zu vergüten? Ich habe ihm zwanzig Shilling für seinen
Einsatz gegeben. Gewiss, das Geld kommt aus der
Tasche meines Brotgebers, aber denken Sie einmal daran,
wie erfreut er wäre, wenn er seine Auslagen erstattet
bekäme. «
Der Hohn, der aus diesen Worten sprach, ließ lsabel
frösteln. Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Mit
frösteln. Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Mit

Shilling-Münze hervor. Sackville nahm sie ihr ab.
»Sag danke, Sackville«, ermahnte ihn Mr. Harris.
»Danke, Miss«, sagte er folgsam.
»Und da solche Arbeit durstig macht, meine ich, eine
halbe Krone wäre ein angemessener Betrag für einen
kühlen Trunk für uns beide. Außerdem wäre das eine
nette Art, sich uns gegenüber erkenntlich zu zeigen. «
Noch eine Münze wechselte den Besitzer. »Mehr habe
ich nicht«, sagte lsabel schwach. »Ich habe nichts mehr
zu essen. Bitte... «
»Ja«, sagte Mr. Harris nachdenklich, »auch ich habe seit
heute Morgen nichts gegessen. Ein saftiges Kotelett wäre
jetzt genau das Richtige. Was meist du, Sackville? Aber
ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie auch dafür zahlen«,
fügte er großzügig hinzu, »ein Mann muss so oder so
essen. Dafür komme ich schon auf.

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