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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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In
den Geschichten, die Jim gewöhnlich las, weinten
Männer nicht, aber im wirklichen Leben war das anders.
Jims Vater hatte geweint, als seine Frau, Jims Mutter,
von der Schwindsucht hinweggerafft wurde; Jim war
damals zehn. Auch ihr Nachbar, Mr. Solomons, hatte
geweint, als der Vermieter seine Familie auf die Straße
gesetzt hatte --- geweint und geflucht. Schließlich hatte
auch Dick Mayhew, der Boxchampion im Leichtgewicht,
losgeheult, als er seinen Titel an die Eisenfaust Bob
Gorman verlor. Tränen brachten keine Schande, sie
waren ein Zeichen von Ehrlichkeit.
Er überließ sich eine Weile den Tränen, dann setzte er
sich wieder auf und zog an der Klingelschnur. Den
Schmerz nicht achtend, schwang er die Beine über die
Bettkante und stellte die Füße auf den Boden. Einen
Augenblick später kam Lucas mit einem Tablett herein.
»Miss Lockhart«, sagte Jim. »Wissen Sie, wo sie ist?«
Lucas stellte das Tablett auf das Nachttischchen und
schob es zu Jim hin. Der bemerkte erst jetzt, dass er eines
von Charles' Nachthemden trug. Auf dem Tablett waren
Tee, Toastscheiben und ein gekochtes Ei.
»Ich habe Mr. Bertram sagen hören«, sagte Lucas, »sie
sei gleich, nachdem Mr. Garlands Leiche aus dem Haus
geborgen worden war, weggegangen. Aber wohin, das
weiß ich nicht. « »Und Mackinnon? Tschuldigung,
Lucas, das habe ich Sie schon mal gefragt, ich bin mehr
als nur ein bisschen verwirrt. Wissen Sie, was noch
passiert ist?«
Lucas stand neben dem Bett, während Jim Tee trank
und ein paar Toastscheiben mit Butter bestrich, und
berichtete, was er gehört hatte. Um fünf Uhr morgens
hatte Webster Charles eine Nachricht schicken lassen, ob
er ihnen helfen könne. Charles war sogleich in die Burton
Street geeilt und hatte dort Jim verletzt angetroffen. Jim
war von dem Strick aus zusammengeknoteten
Betttüchern gefallen, als er versuchte, wieder ins Haus zu
kommen und Frederick nachzueilen. Charles hatte den
Verletzten sofort zu Lucas geschickt, damit sich ein Arzt
um ihn kümmere. Er war immer noch bei Webster in der
Burton Street, wo er wohl noch eine Weile bleiben
würde.
Sally war verschwunden, ebenso Mackinnon. Jim
schloss die Augen.
»Ich muss ihn finden«, sagte er. »Hat Ihnen Mr.
Bertram irgendetwas Näheres hierüber gesagt, Lucas?«
»Nein, Sir. Obwohl ich freilich gemerkt habe, dass
etwas Ungewöhnliches im Gange war. Ich muss Ihnen
sagen, dass der Arzt, der Ihr Bein geschient hat,
nachdrücklich darauf hingewiesen hat, das Bein nicht zu
bewegen. Mr. Bertram hat angeordnet, das Zimmer für
einen längeren Zeitraum für Sie herzurichten. Ich möchte
Ihnen wirklich raten, Sir ---«
»Schon recht, Lucas. Ich werde mich bei Mr. Bertram
bedanken, wenn ich ihn sehe. Aber jetzt kann ich hier
nicht länger herumsitzen - es ist dringend. Würden Sie
wohl eine Droschke für mich bestellen? Und haben Sie
Kleider für mich - ich nehme an, dass meine verbrannt
sind --- wenn ich mich recht entsinne, war ich im
Nachthemd. Können Sie irgendetwas zum Anziehen für
mich auftreiben?«
Eine Viertelstunde später saß Jim in einer Droschke und
fuhr nach Islington. Lucas hatte für ihn einen
Tweedanzug gefunden, der ihm mehr schlecht als recht
passte. Als die Droschke vor Sallys Tür hielt, rief Jim
dem Kutscher zu, auf ihn zu warten, stützte sich auf
einen Stock (den er von Lucas ausgeliehen hatte) und
erklomm die Stufen zur Haustür. Oben klingelte er.
Gleich darauf öffnete Sallys Vermieter Mr. Molloy die
Tür. Es war ein alter Freund, der früher für Frederick
gearbeitet hatte, ehe Sally dazugestoßen war, und kannte
sie alle sehr gut. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Ist
Sally hier?«, fragte Jim.
»Nein, sie ist früh abgefahren«, sagte Mr. Molloy. »Sie
kam so, ich weiß nicht, gegen fünf Uhr morgens heim,
zog sich um und ging gleich wieder weg. Sie sah
verboten aus. Was ist denn los, Jim? Was ist mit deinem
Bein passiert?«
»Folgendes, Mr. Molloy. In der Burton Street ist ein
Feuer ausgebrochen. Fred ist dabei umgekommen. Tut
mir Leid, Ihnen das so brutal zu sagen. Aber ich muss
unbedingt Sally finden, weil sie drauf und dran ist, sich
in große Gefahr zu begeben. Hat sie nicht gesagt, wohin
sie gehen wollte?«
Der kleine Mann war blass geworden. Er schüttelte
hilflos den Kopf.
»Mr. Fred -« sagte er, »das kann ich gar nicht glauben. «
»Leider ist es wahr. Ist Ihre Frau zu Hause?«
»Ja. Aber ---«
»Sagen Sie ihr doch, sie soll auf Sally warten, falls sie
zurückkommt.
Wenn Sie helfen wollen,

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