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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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menschlichen Gesichter lesen.
Und Kraft - eine Kraft, die sie nur aus ihrer Kindheit
kannte, wenn sie nachts aus Angstträumen hochschreckte
und sich an den Vater klammerte. Seine liebevollen
Augen sagten ihr, dass sie sicher war und dass es nichts
Böses in dieser Welt gab.
»Sie haben Frederick Garland umgebracht«, sagte sie
mit gebrochener Stimme.
»Haben Sie ihn geliebt?« Sie nickte nur. Sie traute ihrer
Stimme nicht. »Dann muss er Ihre Liebe verdient haben.
Ich habe schon bei Ihrem ersten Besuch gemerkt, dass
Sie eine ungewöhnliche junge Frau sind. Dass Sie nun zu
diesem Zeitpunkt ein zweites Mal kommen, beweist, dass
ich mich nicht getäuscht habe. Miss Lockhart, Sie sollen
die ganze Wahrheit erfahren. Fragen Sie mich, was Sie
wollen --- ich verspreche Ihnen, dass ich wahrheitsgemäß
antworten werde, egal, was Sie fragen. «
»Haben Sie Nordenfels umgebracht?«, fragte sie. Es
war das Erste, was ihr einfiel. »Ja. «
»Warum?«
»Wir konnten uns über die Zukunft des Selbstregulators
nicht einigen. Er hielt am Ende alles für Teufelszeug und
wollte alle Pläne vernichten, damit die Waffe niemals
gebaut werde. Ich dagegen sah darin ein Werkzeug zur
Menschheitsbeglückung. Wir stritten uns und trugen ein
Duell unter Gentlemen aus, bei dem er verlor. « Er
sprach ruhig, offen und ehrlich, aber was er sagte, passte
nicht zu diesem Ton. Sie konnte nicht begreifen, was er
sagen wollte. »Menschheitsbeglückung?«, fragte sie.
»Erlauben Sie, dass ich das näher erkläre?« Sie nickte.
»Der Gedanke ist einfach, dass der Selbstregulator zu
schrecklich ist, um überhaupt eingesetzt zu werden.
Wenn erst einmal genug davon gebaut sind, werden die
Kriege auf der Erde ein Ende haben, und die Menschheit
wird sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte in Frieden
und Harmonie entwickeln können. « Sie versuchte zu
verstehen, ob das wahr sein könnte. Dann fragte sie
weiter:
»Haben Sie den Untergang der Ingrid Linde
veranlasst?« »Das Dampfschiff? Ja, das habe ich.
Interessiert es Sie zu erfahren, wie ich vorgegangen bin?
Sie nickte, da sie sich zum Sprechen unfähig fühlte.
»Das Schiff hatte im Maschinenraum eine
Kohlevergasungsanlage, wie die meisten
dampfbetriebenen Schiffe. Eine solche Anlage verbrennt
einen Teil der Kohle, um Gas für Beleuchtungszwecke
und dergleichen zu erzeugen. Das Gas wird in
größenvariablen Metallbehältern gespeichert, übrigens
eine sehr sichere Technik. Im Maschinenraum befindet
sich an der Hauptwelle, die die Schiffsschraube bewegt,
ein automatisches Zählwerk. Es zählt jede Umdrehung
und sagt dem Maschinisten, wann er die Lager schmieren
muss. Bei der Ingrid Linde ließ ich nun eine Reihe von
Metallstiften anbringen, die in einer Reihe stehen sollten,
wenn eine bestimmte Anzahl von Umdrehungen erreicht
war - das Schiff wäre dann irgendwo auf hoher See.
Wenn es so weit war, sollten die Stifte einen elektrischen
Schaltkreis schließen und einen Funken von einer
Zündkerze auslösen, die im Gastank installiert war. Zwar
war ich nicht als Zeuge anwesend, aber nach dem
Ergebnis zu urteilen, muss der Mechanismus tadellos
funktioniert haben. «
Sally fühlte sich schwach. »Aber warum haben Sie das
getan?« »Erstens, weil dadurch der Zusammenbruch der
Anglo-Baltischen Schifffahrtsgesellschaft beschleunigt
wurde, was aus finanziellen Überlegungen nötig war. Das
hatten Sie schon richtig erkannt, als Sie ins Baltic House
kamen; das zeugt von Ihrem Scharfsinn. Freilich konnten
Sie nicht den zweiten Grund ahnen. An Bord des Schiffes
befand sich ein Vertreter der mexikanischen Regierung,
der sich auf dem Weg nach Moskau befand und
Dokumente bei sich hatte, die meine russischen
Geldgeber dazu bewogen hätten, mir ihre Unterstützung
zu entziehen. Das hätte katastrophale Folgen gehabt. So
wie sich die Dinge jetzt entwickelt haben, stehe ich kurz
vor dem Abschluss eines Vertrages mit derselben
mexikanischen Regierung, so dass also alle Nutzen
davon haben werden: Arbeiter und ihre Familien, weite
Teile der Gesellschaft in unserem Land und in Mexiko.
Kinder armer Eltern in Barrow werden dank meiner Tat
zu essen haben und die Schule besuchen können.
Familien in Mexiko werden ärztliche Versorgung und
sauberes Trinkwasser erhalten, man wird Transportwege
für die Erzeugnisse ihrer Landwirtschaft, Polizeistationen
und Schulen einrichten - alles das wird möglich, weil ich
die Ingrid Linde versenkt habe. Es war eine durch und
durch humanitäre Tat, und hätte ich noch einmal die
Wahl, würde

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