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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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an, der
über eine Spiralfeder ständig nachgeschoben wird. So
erhält man ein gleichmäßiges Licht für fotografische
Aufnahmen. Letztens habe ich das Gerät in einer
Opiumhöhle in Limehouse verwendet, als ich dort die
armen Teufel fotografierte, die das Zeug rauchen... Das
also ist Psychometrie. Ich muss sagen, ich bin
beeindruckt. Wie hat man sich das vorzustellen. Haben
Sie ein Bild vor Augen?
»So etwas Ähnliches«, sagte Mackinnon. »Es ist, wie
wenn man mit offenen Augen träumte. Es ist stärker als
ich... Es drängt sich mir zu den unmöglichsten
Gelegenheiten auf. Und daher rührt auch mein Problem:
Ich habe einen Mord gesehen, und der Mörder weiß, dass
ich es gesehen habe, aber ich kenne seinen Namen nicht.
« »Nicht schlecht für den Anfang«, sagte Frederick. »Das
macht neugierig. Am besten, Sie erzählen uns die ganze
Geschichte. Noch einen Whisky?«
Er schenkte Mackinnon nach, lehnte sich zurück und
lauschte. »Es ist ein halbes Jahr her«, begann Mackinnon.
»Ich hatte eine Privatvorstellung im Haus eines
Aristokraten. Ab und zu mache ich so etwas --- eher als
Gast, nicht als Mietkünstler zur Unterhaltung der
Abendgesellschaft. «
»Ah, Sie machen das gratis?«, sagte Jim in spitzem Ton.
Er fand Mackinnons herablassende Art und seinen hohen,
leicht affektierten Sprechton kaum erträglich.
»Gegen die übliche professionelle Vergütung, versteht
sich«, erwiderte Mackinnon pikiert.
»Wer war denn Ihr Gastgeber?«, wollte Frederick
wissen. »Das möchte ich lieber nicht sagen. Eine hoch
gestellte Persönlichkeit des politischen Lebens. Sein
Name sollte besser unerwähnt bleiben. «
»Ganz wie Sie wünschen«, sagte Frederick
geschmeidig. »Bitte, erzählen Sie weiter. «
»Ich war an dem Abend meines Auftritts zum Dinner
eingeladen. So ist es gewöhnlich, ich gehöre zu den
Gästen, so sehen es auch alle Geladenen. Während die
Damen sich nach dem Essen zurückzogen und die Herren
im Speisezimmer blieben, ging ich ins Musikzimmer
hinüber und bereitete die Requisiten für meinen Auftritt
vor. Da bemerkte ich, dass jemand ein Zigarrenetui auf
dem Deckel des Klaviers hatte liegen lassen. Ich nahm es
und wollte es anderswo an einen weniger auffälligen
Platz legen, doch sogleich überkam mich die stärkste
psychometrische Empfindung, die ich je erlebt habe. Ich
sah einen Fluss in einem Wald --- ein Wald irgendwo im
hohen Norden, dunkle Fichten und Schnee, darüber ein
niedriger, dunkelgrauer Himmel. Zwei Männer gingen
am kahlen Ufer entlang und schienen eine heftige
Auseinandersetzung zu haben. Ich konnte sie nicht hören,
aber ich sah sie so deutlich, wie ich Sie jetzt sehe.
Plötzlich nahm einer der beiden seinen Stock, ließ ein
Schwert daraus hervorschnellen und stieß es dem
Anderen --- ohne die geringste Warnung --- mehrmals in
die Brust, drei-, vier-, fünf-, sechsmal. Ich konnte das
dunkle Blut im Schnee sehen. Als das Opfer sich nicht
mehr rührte, suchte der Mörder nach einem Klumpen
Moos, um die Klinge des Schwerts daran abzuwischen.
Dann beugte er sich, packte den Toten bei den Füßen und
schleppte ihn zum Wasser. Unterdessen fing es an zu
schneien. Ich hörte noch, wie es platschte, als die Leiche
in das Wasser fiel. « Er machte eine Pause und nahm
einen Schluck Whisky. Entweder sagt er die Wahrheit,
überlegte Jim, oder er ist ein besserer Schauspieler als ich
dachte. Tatsächlich schwitzte Mackinnon jetzt, und in
seinen Augen flackerte das pure Entsetzen. Dann musste
er aber verdammt viel Talent haben --- immerhin war es
sein Beruf... Mackinnon nahm seine Erzählung wieder
auf: »Nach einer Weile kam ich wieder zu mir und
merkte, dass ich das Zigarrenetui immer noch in der
Hand hielt. Noch bevor ich es weglegen konnte, ging die
Tür des Musikzimmers auf, und herein kam der Mann,
den ich eben gerade gesehen hatte. Er gehörte zu den
Gästen - ein großer, stattlicher Mann mit glattem,
blondem Haar. Er sah, was ich in der Hand hielt, kam auf
mich zu und nahm es mir weg. Unsere Blicke begegneten
sich. Da wurde mir klar, dass er wusste, was ich gesehen
hatte...
Er sprach nicht mit mir, denn im gleichen Augenblick
kam ein Diener ins Zimmer. Er wandte sich an den
Diener und sagte: »Danke, ich habe es bereits gefunden«,
und mit einem letzten Blick auf mich ging er wieder
hinaus. Aber er wusste Bescheid. Später brachte ich
meinen Auftritt hinter mich, sah aber, wohin ich auch
schaute, die Szene mit dem plötzlich wie rasend
zustechenden Schwert und dem im Schnee

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