Der Schatten im Norden
eine
geheimnisvolle Substanz namens Ektoplasma
ausströmten...
Das Thema an sich war ernst. Gab es ein Leben nach
dem Tod? Sollte man Fantasien und Erscheinungen eine
gewisse Realität zusprechen? Stand die Menschheit an
der Schwelle der größten Entdeckung ihrer Geschichte?
Viele rechtschaffene Leute hielten das Thema für
durchaus seriös, und zu letzteren gehörten auch die
Mitglieder der Streatham and District Spiritualist
League, die im Haus von Mrs. Jamieson Wilcox, der
Witwe eines allseits verehrten Krämers,
zusammenkamen.
Frederick hatte von einem der Ligamitglieder eine
Einladung erhalten, ein Buchhalter aus dem Londoner
Finanzviertel, der über einige Dinge beunruhigt war, die
er im Verlauf einer spiritistischen Séance vernommen
hatte. Der Mann bestand darauf, dass sich Frederick
verkleiden müsse; es sei ihm peinlich, seine Freunde
auszuspionieren, aber Gravierendes sei im Spiel, es gehe
um enorme Summen. Er könne das nicht auf sich
beruhen lassen. Frederick war sogleich einverstanden. An
dem bewussten Abend wurden er als Wissenschaftler und
Jim als sein Assistent eingeführt. »Du brauchst nur
zuzuhören«, schärfte Frederick seinem Freund ein, »aber
merke dir jedes Wort ganz genau. Auf schwebende
Tamburine und Geisterhände und anderen Hokuspokus
brauchst du nicht Acht zu geben - das ist das Gängige bei
solchen Veranstaltungen. Konzentriere dich auf das, was
das Medium sagt. « Fredericks Haare waren mit Pomade
gebändigt, und eine eulenhafte Brille saß auf seiner
gebrochenen Nase. Jim, der trotz gegenteiliger
Beteuerungen doch neugierig geworden war, bekam eine
messingbeschlagene Kiste und einen Batteriekasten. Den
ganzen Weg nach Streatham beklagte er sich über das
Gewicht, das er zu schleppen habe.
Um sieben Uhr abends herrschte im Gästezimmer der
Witwe Wilcox drangvolle Enge: Zwölf Personen
zwängten sich wie Sardinen in der Büchse. Alle kleineren
Möbelstücke waren aus dem Zimmer geräumt worden,
bis auf einen gediegenen Tisch, ein Klavier, drei Sessel,
eine mit Krimskrams beladene Etagere und eine
Anrichte, auf der das trauerumflorte Porträt des
verblichenen Mr. Jamieson Wilcox einer prächtigen
Ananas Gesellschaft leistete. Das Zimmer war warm, um
nicht zu sagen überheizt. Die Gaslampen auf den
Schmuckleuchtern waren aufgedreht, außerdem brannte
ein Kohlenfeuer im Ofen. Die versammelten Spiritisten
sorgten ebenfalls für beträchtliche Körperwärme, die das
vorangegangene Büffet noch erhöht hatte. Ein Geruch
von Büchsenlachs, kalter Ochsenzunge, eingelegten
Garnelen, Roten Beeten und Pudding hing in der Luft.
Man tupfte sich die Stirn und fächelte sich Luft zu, aber
keiner der anwesenden Gentlemen hätte auch nur einen
Augenblick erwogen, die Krawatte zu lockern oder das
Jackett auszuziehen.
Die eigentliche Séance sollte um halb acht beginnen.
Als der Augenblick herankam, klappte ein stämmiger,
Respekt gebietender Herr den Deckel seiner Taschenuhr
auf und zog mit einem lauten Räuspern die
Aufmerksamkeit der Versammelten auf sich. Der Herr
war Mr. Freeman Humphries, Tuchhändler im Ruhestand
und Vorsitzender der Liga.
»Meine Damen und Herren!«, begann er. »Gefährten
auf der Suche nach der Wahrheit! Erlauben Sie mir
zunächst, dass ich Mrs. Jamieson Wilcox für das
köstliche Büffet danke, das wir gerade genießen durften.
« (Zustimmendes Gemurmel. ) Als Nächstes möchte ich
Mrs. Budd bei uns begrüßen, die berühmte Hellseherin,
die zugleich als Medium bekannt ist und die uns bei
ihrem letzten Besuch mit ihren Botschaften so
beeindruckt und getröstet hat. « Damit machte er eine
leichte Verbeugung zu einer fülligen, dunkelhaarigen
Frau mit schelmischen Augen, die ihn ungeniert
anlächelte.
Er räusperte sich wieder und raschelte mit seinen
Papieren. »Schließlich bin ich sicher, dass alle hier
Versammelten Herrn Dr. Herbert Semple, Mitglied der Royal Institution, und seinen Assistenten, kennen lernen
möchten, die heute zu uns gekommen sind. Ich bitte Dr.
Semple, uns über den Zweck des heutigen Treffens
aufzuklären und ein paar Worte zu seinem
Forschungsprojekt zu sagen. « Das war Fredericks
Stichwort. Er erhob sich von seinem Platz und blickte in
die Runde. Er sah Ladenbesitzer und Buchhalter nebst
Gattinnen, einen blassen jungen Mann mit triefender
Nase und eine blasse junge Frau mit Bernsteinkette, er
sah Mrs. Budd, das Medium (deren Augen bewundernd
an seiner von einem engen Gehrock umschlossenen
Gestalt hinunterglitten), die Witwe Wilcox
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