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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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meine Gute«, antwortete die
Stimme, eine Männerstimme wie sie keine Frau
nachahmen könnte, so deutlich hörte man sechzig Jahre
Portwein- und Zigarrengenuss heraus. »Ella, wenn uns
auch das Grab trennt, so wollen wir doch nicht in unserer
Liebe erkalten... «
»Oh, niemals, Charles, niemals!«
»Ich bin Tag und Nacht mit dir, mein Schatz. Sage
Filkins, er soll im Geschäft den Käse im Auge behalten.
« »Den Käse im Auge behalten - ja - «
»Und kümmere dich um unseren Jungen, Victor. Ich
fürchte, dass er in schlechte Gesellschaft geraten
könnte.« »Oh, Charles, mein Bester, Charles, was soll ich
tun ?«
»Hab keine Angst, Ella. Das gesegnete Licht scheint ---
das goldene Land ruft, und ich muss wieder gehen - denk
an den Käse, Ella. Filkins achtet nicht genug auf seine
Servietten. Ich gehe... Ich verlasse dich wieder... «
»Oh, Charles! Oh, Charles. Lebewohl, mein Bester!«
Ein Seufzer und der Geist des Krämers war
verschwunden. Mrs. Budd bewegte den Kopf, als wollte
sie ihn ausschütteln; Witwe Wilcox weinte diskret in ein
schwarz gesäumtes Taschentuch, und dann konnte es
weitergehen.
Frederick blickte in die Runde. Im Halbdunkel waren
keine Gesichter zu erkennen, aber die Stimmung war
umgeschlagen. Die Anwesenden waren angespannt,
voller Erwartung und wollten überzeugt werden. Diese
Frau war ein Phänomen. Zwar zweifelte Frederick keinen
Augenblick, dass sie sich verstellte, aber er war nicht
hierher gekommen, um einen verblichenen Krämer über
Käse reden zu hören. Und dann geschah es.
Mrs. Budd überkam ein kurzes Schaudern, dann aber
begann sie leise zu sprechen - diesmal mit ihrer eigenen,
angstbeladenen Stimme.
»Der Funke... «, sagte sie. »Ich sehe eine elektrischen
Leitung, und der Zähler dreht sich --- hunderteins,
hundertzwei.... Nein, nein. Glocken. Ein Mann mit
Glocken. Schiffsglocken. So ein schönes Schiff, und das
kleine Mädchen ist tot... Hopkinson ist es nicht, aber das
weiß niemand. Nein. Das muss im Dunkeln bleiben.
Schwert im Wald --- oh, Blut im Schnee, und das Eis ---
da ist er immer noch, in einem Glassarg... Der Regulator.
Dreihundert Pfund --- vierhundert Pfund --- Nordstern!
Ein Schatten liegt über dem Norden... ein Nebel aus
Dampf, dahinter loderndes Feuer --- todbringend --- aus
stählernen Rohren --- Rohre unter Dampf--- unter dem
Nordstern - schrecklich... « Ihre Stimme erlosch in tiefer
Trauer.
Das war es, was Frederick hören wollte, und obwohl er
sich noch keinen Reim darauf machen konnte, ließ ihn
der Ton in Mrs. Budds Stimme erschaudern. Es klang, als
tauchte sie gerade aus einem Albtraum auf.
Die anderen Spiritisten saßen mucksmäuschenstill da.
Keiner rührte sich. Dann tat Mrs. Budd wieder einen
tiefen Seufzer und konzentrierte sich erneut.
Ein lauter Akkord kam vom Klavier herüber. Alle
zuckten zusammen, und die drei silbergerahmten
Fotografien auf dem Klaviergehäuse vibrierten ebenfalls.
Ein wildes Klopfen breitete sich von der Mitte des
Tischs aus. Köpfe zuckten erschrocken, richteten sich
aber schon im nächsten Augenblick nach oben, wo ein
blasses, zitterndes Leuchten an der Zimmerdecke
erschien. Mrs. Budd, die die Augen geschlossen hielt,
schien sich im Zentrum eines unsichtbaren Sturms zu
befinden. Frederick merkte wohl, dass sie alles im Griff
hatte, konnte aber nicht umhin, beeindruckt zu sein: Die
Vorhänge bewegten sich --- die Saiten des Klaviers
klimperten --- und dann hob sich der schwere Tisch unter
der kostbaren Damastdecke und begann wie ein Boot in
schwerer See zu rollen. Ein Tamburin auf dem
Kaminsims rasselte einmal kurz und fiel dann scheppernd
herunter. »Eine Materialisierung!«, rief Mr. Humphries.
»Bleiben Sie ruhig und beobachten Sie die Phänomene!
Die Geister werden uns nichts tun... «
Doch offenbar waren die Geister anderer Meinung,
zumindest was den Elektro-Dermatographen betraf: Aus
dem kam plötzlich ein greller Blitz, ein lauter Knall und
ein Geruch nach Verbranntem. Mrs Budd tat einen
spitzen Schrei, und Frederick sprang auf. »Licht an! Bitte
machen Sie das Licht an, Mrs. Wilcox!« Als die
Gastgeberin in der allgemeinen Aufregung schließlich
das nächste Gaslicht aufdrehte, nahm sich Frederick des
Mediums an und löste die Elektroden von ihren
Gelenken. »Ein hervorragendes Ergebnis!«, rief er
begeistert. »Mrs. Budd, Sie haben alle meine
Erwartungen übertroffen! So eine hohe Anzeige gab es
noch nie - Sie haben sich doch nicht verletzt? Nein,
natürlich nicht. Der Apparat ist defekt, aber das

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