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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Hintergrund bildete ein
Samtvorhang, während vorn Farne und Palmen für etwas
Grün sorgten. Das Orchester hatte den Saal verlassen,
aber ein Pianist wartete an einem Flügel, der etwas
versetzt neben der Bühne stand. Das Publikum brauchte
ungefähr fünf Minuten, bis es die Plätze eingenommen
hatte. Frederick achtete darauf, dass er und Charles nahe
genug an der Bühne saßen, um Mackinnon genau sehen
zu können, und im Fall eines Falles einen freien Weg zur
Tür hatten. Er erklärte es Charles, und brachte ihn damit
zum Lachen. «Das hört sich an wie eine von Jims
Schauergeschichten«, kommentierte Charles.
»Demnächst wird Jack mit den Stahlfersen hier
hereinspringen, oder Dick aus dem finsteren Tann hält
uns die Pistole vor die Brust und will unser Geld. Was
erwartest du eigentlich?« »Ich habe keine Ahnung«,
sagte Frederick. »Und Mackinnon ebenso wenig, das ist
das Problem. Aber schau, da ist unsere Gastgeberin. «
Lady Harborough, die von ihrem Personal die Meldung
erhalten hatte, das alle Gäste bereit waren, hielt von der
Bühne aus eine kurze Rede über die gemeinnützige
Arbeit der Krankenhausstiftung. Deren Hauptanliegen
schien darin zu bestehen, ledige Mütter aus der Armut zu
retten und dafür in die Sklaverei zu schicken --- unter
Verabreichung einer täglichen Moralpredigt durch
evangelische Geistliche.
Die Rede war jedoch bald überstanden. Lady
Harborough verließ die Bühne, und an ihrer Stelle trat
der Pianist auf, breitete seine Noten aus und begann im
Bass eine Folge gebrochener Akkorde zu spielen. Dann
öffnete sich der Vorhang und Mackinnon erschien auf
der Bühne.
Er war nicht wieder zu erkennen. Jim hatte schon davon
gesprochen, aber Frederick hatte ihm nicht ganz
geglaubt; jetzt aber blinzelte er erstaunt, als er statt der
verhuschten, ängstlichen Person, die er bisher gekannt
hatte, eine mächtige, gebieterische Gestalt vor sich sah.
Er war wieder kreideweiß geschminkt, was auf den ersten
Blick bizarr wirkte, aber tatsächlich ein genialer Zug war,
denn so konnte er abwechselnd unheimlich, komisch
oder berückend erscheinen -ein Totenschädel, ein Clown
oder ein Pierrot. Seine äußere Erscheinung war ein
wichtiger Teil des Gesamteffekts. Er konnte mehr als nur
Zaubertricks aufführen. Er verwandelte Blumensträuße in
Goldfischgläser, zog Spielkarten aus der Luft und ließ
Kerzenständer aus massivem Silber verschwinden, wie
das wohl auch andere Illusionskünstler machten, aber alle
diese Tricks waren nur Mittel zu einem ganz anderen
Zweck, nämlich dem Erschaffen einer anderen Welt. In
dieser Welt gab es nichts Festes, alles konnte sich in
Sekundenschnelle verändern, Gegensätze wie hart und
weich, oben und unten, Kummer und Freude gingen von
einem Augenblick zum anderen in ihr Gegenteil über und
wurden bedeutungslos. In dieser schwankenden Welt
waren der Zweifel die gebotene Geisteshaltung und
Misstrauen das durchgehende Thema. Je mehr Frederick
darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass diese
Welt mehr als nur ein bisschen teuflisch war, denn in
Mackinnons Aufführung war kein Platz für Freude und
harmloses Spiel. Er tadelte sich selbst für den Gedanken
(war er etwa abergläubisch geworden?), aber es war nicht
von der Hand zu weisen: Mackinnon beschwor Schatten
aus einer anderen Welt, auch wenn man bei Licht über
sie lachen konnte.
Dann kam ein Trick, für den Mackinnon sich eine
Taschenuhr aus dem Publikum borgen musste.
Als er dazu aufforderte, schaute er Frederick direkt an,
und seine dunklen Augen funkelten; Frederick verstand
sofort, löste seine Uhrkette von der Weste seines Anzugs
und hob sie hoch. Noch ein halbes Dutzend anderer
Arme ging in die Höhe, aber Mackinnon sprang elegant
von der Bühne und war im nächsten Augenblick neben
Frederick.
»Vielen Dank, Sir«, sagte er laut. »Dieser Herr hat
Vertrauen in die Güte der Welt der Wunder. Ahnt er,
welch schreckliche Verwandlungen seinen Chronometer
erwarten? Nein! Wird er ihn als Chrysantheme
zurückerhalten? Oder als geräucherten Hering? Oder als
ein Knäuel aus Rädchen und Federn? Noch Schlimmeres
kann geschehen!« Und dann, kaum hörbar für Frederick,
kam die geflüsterte Anweisung: »Neben der Tür.
Kommen Sie einfach rein. « Im nächsten Augenblick war
Mackinnon schon wieder auf der Bühne und wickelte die
Uhr, weitschweifig deklamierend, in ein
Seidentaschentuch. Kam es Frederick nur so vor, oder
hatte sich tatsächlich ein hysterischer Ton in Mackinnons
Stimme geschlichen?

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