Der Schatten im Norden
neben der Bibliothek.
»Mr. Mackinnon hat dieses Zimmer als Garderobe
benutzt, Sir«, informierte er Frederick.
Er klopfte an die Tür, erhielt aber keine Antwort.
Frederick trat neben ihn und drückte auf die Klinke. Das
Zimmer war leer. »Stand nicht ein Lakai in der
Vorhalle?«, fragte Frederick. »Ja, Sir. «
»Könnten Sie ihn fragen, ob er Mr. Mackinnon hat aus
dem Ballsaal kommen sehen?«
»Gewiss, Sir. Aber er ist sicherlich nicht dort
entlanggegangen, wenn ich mir diese Bemerkung
erlauben darf, sondern sehr wahrscheinlich durch den
Salon, da er von der Rückseite der Bühne kam. « »Ich
verstehe. Aber wenn Mr. Mackinnon hinausgehen wollte,
um frische Luft zu schnappen, dann hat er durch die
Vorhalle gehen müssen, nicht wahr?«
»In der Tat, Sir, das hätte er. Soll ich nachschauen und
fragen?« »Ja, bitte. «
Als der Lakai außer Sicht war, schaute sich Frederick
rasch im Zimmer um. Es war ein kleines Wohnzimmer,
das von einem Gaslicht auf dem Kaminmantel erhellt
wurde. Mackinnons Mantel und Hut lagen auf der
Rückenlehne eines Sessels neben dem Kamin. Neben
dem Tisch standen ein offener Weidenkoffer, dazu ein
Blech mit Schminktöpfen und ein kleiner Handspiegel ---
aber von Mackinnon keine Spur.
Nach einer Weile klopfte der Lakai an die Tür. »Es
scheint so, als hätten Sie Recht gehabt, Sir«, sagte er.
»Mr. Mackinnon ist zur Eingangstür gelaufen und hat das
Haus verlassen. « »Dann wird er wohl wiederkommen,
wenn es ihm besser geht«, sagte Frederick. »Nun, dann
ist hier nichts mehr zu tun. Könnten Sie mich wieder in
den Saal zurückführen?«
Im Ballsaal räumten die Diener gerade die Stühle fort,
während das Orchester wieder auf der Bühne Platz nahm.
Lakaien mit weiteren Champagnergläsern gingen durch
die Menge; fast schien es so, als sei die Uhr um eine
Stunde zurückgedreht worden und Mackinnon habe nie
seinen Auftritt gehabt.
Frederick hielt nach dem blonden Mann Ausschau, doch
auch er war nirgends zu sehen. Charles fehlte ebenfalls.
Frederick nahm sich ein Glas vom nächststehenden
Lakaien und spazierte, die Gesichter der Gäste musternd,
durch den Saal. Scheint ein ziemlich fader Haufen zu
sein, dachte er bei sich. Glatt, gefällig und piekfein... Er
fragte sich, wie spät es wohl sein könnte, und erinnerte
sich, dass Mackinnon ihm die Uhr abgenommen hatte.
Wenn es überhaupt noch eine Uhr war und nicht eher ein
Kaninchen oder ein Kricketschläger, dachte er säuerlich.
Dann sah er Lady Mary Wytham und hielt an, um sie
näher zu betrachten. Sie saß nicht weit vom Flügel, neben
ihr war ihre Mutter. Beide lächelten höflich jemandem
zu, den Frederick nicht sehen konnte, weil eine
Zimmerpalme dazwischen stand. Frederick wechselte die
Seite und schaute wieder wie zufällig hinüber: Jetzt
erkannte er den blonden Mann.
Er saß den beiden Damen gegenüber, mit dem Rücken
zu Frederick, und plauderte. Frederick konnte nicht
verstehen, was er sagte, aber er mochte nicht näher
herangehen. Auch so fühlte er sich schon exponiert
genug. Während er so tat, als wiege er den Kopf im Takt
der Musik, beobachtete er Lady Mary genau. Wieder fiel
ihm ein Anflug von Verzweiflung auf, die er schon
vorhin in ihren Augen bemerkt hatte. Sie sprach kein
Wort; wenn eine Antwort gegeben werden musste, tat es
ihre Mutter. Lady Mary hörte folgsam zu und blickte sich
nur hin und wieder rasch um. Frederick fragte sich, wie
alt sie wohl sein könnte; manchmal machte sie ihm den
Eindruck einer Fünfzehnjährigen.
Dann stand der blonde Mann auf. Er verneigte sich vor
den Damen, nahm die Hand, die ihm Lady Mary unsicher
entgegenstreckte, und küsste sie. Sie errötete, lächelte
aber höflich, als er sich zum Gehen wandte.
Frederick blickte unauffällig hin, als der Mann an ihm
vorbeiging. Er spürte die Gegenwart einer großen
physischen Kraft, wie wenn eine gewaltige Wassermasse
durch eine Schleuse drängt, sah einen Schimmer hellen
Haars und vorstehende grau-blaue Augen, und dann war
der Mann schon an ihm vorüber.
Zuerst dachte er daran, ihm zu folgen, verwarf den
Gedanken aber gleich wieder. Der Mann hatte sicherlich
eine Kutsche, und bis Frederik eine Droschke gefunden
hätte, wäre der andere schon längst außer Sichtweite
gewesen. Wie auch immer, nun kam Charles Bertram auf
ihn zu.
»Hast du Mackinnon gefunden?«, fragte Charles. »Nein,
der Kerl ist ein echtes Gespenst«, sagte Frederick. »Aber
er wird schon wieder auftauchen. Das sollte er jedenfalls,
verflixt, ich möchte meine Uhr
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