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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Er schien schneller zu sprechen,
seine Gesten schienen ausladender, weniger präzise zu
werden... Bei der nächsten Gelegenheit drehte sich
Frederick unauffällig um und schaute in die Richtung, die
ihm Mackinnon genannt hatte.
Auf dem Stuhl gleich neben der Flügeltür saß ein
großer, hünenhafter Mann mit glattem, blondem Haar.
Den einen Arm über die Rückenlehne des leeren Stuhls
neben sich gelegt, beobachtete er die Bühne aus kalten,
weit auseinander stehenden Augen; seine ganze
Erscheinung strahlte ein waches, gebieterisches Wesen
aus. Auch im tadellosen Abendanzug hatte er etwas
Brutales an sich. Oder nein, dachte Frederick, nichts
Brutales, denn das suggerierte animalische Kraft, dieser
Mann aber wirkte mechanisch. Wieso kam er gerade
darauf?
Um nicht ins Sinnieren zu geraten, drehte er sich wieder
um und schaute auf die Bühne. Mackinnon umspielte
immer noch die Uhr mit komplizierten Gesten, doch
schien er geistig nicht bei der Sache zu sein --- Frederick
sah, wie seine Hand zitterte, während er mit dem
Taschentuch über dem kleinen Tisch, an dem er arbeitete,
hin-und herfuhr. Er bemerkte auch, dass Mackinnons
Augen unverwandt auf den Mann neben der Tür starrten.
Frederick setzte sich schräg auf seinen Stuhl, die Beine
gekreuzt, so als ob er eine bequemere Sitzposition für
sich suchte. So hatte er Mackinnon und den Mann neben
der Tür gleichzeitig im Blick. Er beobachtete, wie der
blonde Mann den Finger hob und einen Diener diskret
heranwinkte. Der Diener beugte sich zu ihm hinab und
lauschte, während der Gast zu Mackinnon hinübersah
und etwas über ihn zu sagen schien. Frederick wusste,
dass auch Mackinnon die Szene verfolgt hatte, und
während er noch beobachtete, wie der Diener nickte und
den Saal verließ, verlor Mackinnon vollends die Fassung.
Nun schien es im ganzen Ballsaal nur noch drei Personen
zu geben, die eine Rolle spielten: der blonde Mann,
Mackinnon und Frederick, der Zeuge ihres Willensduells
wurde. Auch das Publikum spürte, dass irgendetwas nicht
stimmte. Mackinnons Redestrom war plötzlich versiegt,
das Taschentuch hing ihm schlaff in der Hand, und sein
Gesicht hatte einen gespenstischen Ausdruck bekommen.
Schließlich ließ er das Taschentuch fallen und taumelte
rückwärts.
Die Musik hörte auf. Der Pianist schaute zögernd zur
Bühne hinauf. Mackinnon hielt sich am Vorhang fest und
brachte in der gespannten Stille gerade noch die Worte
hervor: »Verzeihung --- ein Schwächeanfall --- muss
abgehen ---« Dann zog er den Vorhang beiseite und
verschwand. Das Publikum war zu gut erzogen, als dass
es in ungebührliche Aufregung verfallen wäre. Allerdings
wurde der Vorfall ausgiebig kommentiert. Der Pianist
ergriff die Initiative und begann einen gefälligen Walzer
zu spielen. Lady Harborough erhob sich von ihrem Platz
in der ersten Reihe und unterhielt sich im Flüsterton mit
einem älteren Herrn, vermutlich ihrem Gatten.
Frederick trommelte mit den Fingern auf der Armlehne
seines Stuhls und überlegte.
»Charlie«, sagte er ruhig. »Der Typ neben der Tür ---
blondes Haar, kräftig gebaut. Könntest du herauskriegen,
wer das ist? Name, gesellschaftliche Stellung,
Vermögensverhältnisse, alles, was du erfahren kannst. «
Charles nickte. »Aber was hast du eigentlich vor?« »Ich
gehe schnüffeln«, sagte Frederick. Er stand auf und ging
auf Lady Harborough zu. Sie stand neben dem Flügel
immer noch in Gesellschaft des älteren Herrn und
schaute, als wolle sie jeden Augenblick einen Diener
herbeirufen. Die übrigen Anwesenden - oder doch die
meisten - blickten höflich in die andere Richtung und
unterhielten sich miteinander, als sei nichts
Ungewöhnliches geschehen.
»Mylady?«, sprach sie Frederick an. »Verzeihen Sie die
Störung, aber ich bin Arzt. Wenn Mr. Mackinnon sich
unwohl fühlt, wäre es vielleicht nützlich, wenn ich
einmal nach ihm schaute. « »Oh! Sie kommen wie
gerufen!«, sagte sie. »Ich wollte schon nach einem Arzt
schicken. Gehen Sie doch bitte mit dem Diener, Doktor...
«
»Garland«, sagte Frederick.
Ein steifer Lakai mit gepuderter Perücke und weiß
bestrumpften Waden blickte ihn kühl an und machte
einen Bückling. Während Frederick ihm durch den
Ballsaal folgte, hörte er, wie Lady Harborough
anordnete, das Orchester wieder auf der Bühne zu
platzieren. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie sich
Charles Bertram mit einem Gast in der hinteren Reihe
unterhielt. Der Lakai führte Frederick durch die Vorhalle
und einen Korridor bis zur Tür

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