Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
und
Optimismus aus. Er musste an den Tag zurückdenken, als
Sally zum ersten Mal hierher gekommen war:
schüchtern, nervös und in Angst um ihr Leben. Frederick
hatte sich damals gerade heftig mit seiner Schwester
gestritten. Das Atelier war in einem trostlosen Zustand,
die Regale halb leer, der Bankrott rückte jeden Tag
näher. Dann aber hatten sie es mit einer Folge witziger
Stereokarten, die sich überraschend gut verkauften, doch
geschafft, sich über Wasser zu halten. Als dann Sally
etwas Kapital in das Geschäft einbringen konnte, blühte
es auf. Mit den Stereokarten hatten sie aufgehört, da der
Absatz zurückging, dafür stiegen sie bei den
Visitenkartenfotografien ein, das war der neue Renner.
Doch allmählich wurde es eng, sie mussten daran
denken, anzubauen oder sogar neue Geschäftsfelder zu
erobern. Frederick wollte nach seiner Taschenuhr
greifen, fluchte, als ihm einfiel, dass Mackinnon sie
immer noch hatte, und blickte dann zur Wanduhr
hinüber. Er spielte mit dem Gedanken, Sally zu
besuchen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie etwas
im Schilde führte, wovon sie ihm nichts verraten hatte,
und das beunruhigte ihn. Der Geschäftsführer stand
hinter dem Tresen und schrieb eine Bestellung über
Fotopapier. Frederick ging zu ihm.
»Mr. Blaine«, begann er, »ist Miss Lockhart heute
Morgen vorbeigekommen?«
»Nein, leider nicht, Mr. Garland«, sagte Mr. Blaine in
seiner steifleinenen Art. »Ich hatte mich mit der Absicht
getragen, ihr in aller Bescheidenheit vorzuschlagen, wie
wünschenswert es wäre, eine buchhalterische Kraft
einzustellen. Ich fürchte sehr, dass unserem jungen
Freund Herbert das Talent zur Buchhaltung abgeht, und
alle übrigen Angestellten sind bereits anderweitig
beschäftigt. Wie denken Sie darüber, Sir?«
»Gute Idee. Aber wo wollen Sie die Buchhaltung
unterbringen? In der Registratur ist es so eng, dass man
sich kaum umdrehen kann. Wir müssten einen
Schreibtisch aufstellen, und wir brauchen eine
Schreibmaschine --- in allen Büros gibt es mittlerweile
Schreibmaschinen. «
»Ja... durchaus, Mr. Garland, eine Erweiterung der
Räumlichkeiten dürfte die richtige Lösung sein. «
»Komisch. Genau das habe ich vor einer Minute auch
gedacht. Aber ich muss jetzt gehen. Falls Miss Lockhart
vorbeikommt, bereden Sie die Sache doch mit ihr. Und
grüßen Sie sie von mir. « Er holte seinen Mantel und
nahm den nächsten Zug nach Streatham.
Nellie Budd fütterte ihre Katzen. Jede, so erläuterte sie
Frederick, sei die Wiederverkörperung eines Pharaos.
Die Dame selbst war von solider Fleischlichkeit:
Vollbusig und keck blinzelnd, hielt sie mit ihrer
Bewunderung für das, was sie vermutlich Fredericks
männliche Statur genannt hätte, nicht hinter dem Berge.
Er entschied sich für eine offene Sprache.
»Mrs. Budd«, begann er, als sie beide im Wohnzimmer
auf einem gemütlichen Sofa saßen, »neulich bin ich zu
einer spiritistischen Séance nach Streatham gekommen
und habe dabei ein Foto von Ihnen gemacht. Was Sie da
im Dunkeln inszeniert haben, geht mich nichts an, und
wenn Ihre Freunde so einfältig sind und darauf
hereinfallen, so sind sie selber schuld. Aber das Foto ist
gelungen: Man sieht eine falsche Hand auf dem Tisch,
einen Draht, der mit einem Tamburin verbunden ist, und
was Ihr rechtes Bein bei der ganzen Veranstaltung tut,
wage ich mir kaum auszumalen... Um es mit einem Wort
zu sagen, Mrs. Budd: Ich könnte Sie erpressen. « Sie
lächelte nur anzüglich.
»Aber ich bitte Sie«, versetzte sie. Ihre Stimme hatte
einen gedämpften nordischen Einschlag, ob aus
Lancashire oder Yorkshire, konnte er nicht
unterscheiden. »Ein gut aussehender junger Mann wie
Sie hat das doch gar nicht nötig. Sagen Sie einfach, was
Sie sich von mir wünschen. «
»Auch recht. Ich hatte sowieso nichts Bestimmtes vor.
Was mich interessiert ist, vielmehr Ihre Trance - Ihre
echte Trance. Können Sie sich noch daran erinnern?«
»Ach du meine Güte«, entfuhr es ihr, »da fragen Sie
mich aber was. Das war einer von meinen Zuständen. Die
habe ich nun schon seit Jahren. Deswegen bin ich ja
überhaupt auf die Medium-Nummer gekommen und
wegen meines Mannes, Josiah, Gott hab ihn selig. Er war
Zauberkünstler, wissen Sie. Er hat mir Tricks gezeigt, da
würde Ihnen die Spucke wegbleiben. Wenn's darum geht,
Tamburine rasseln zu lassen und Hände im Dunkeln zu
schütteln, hat Nellie Budd nicht ihresgleichen. «
»Interessant. Sie sind auch geschickt im Vermeiden von
Fragen. Was hat es nun mit

Weitere Kostenlose Bücher