Der Schatten im Norden
wenn Sie erlauben, Freitagmorgen
am Cavendish Square besuchen und Lady Mary meinen
Heiratsantrag machen. Heute ist Dienstag, also in drei
Tagen. « Lord Wytham schluckte. In seinen
langbewimperten Augen standen Tränen.
»Ja«, sagte er mit tonloser Stimme. »Selbstverständlich.
« »Das wäre also geklärt. Nun etwas Geschäftliches. Wir
sollten in den nächsten Tagen den Vertrag über Ihren
Direktorenposten aufsetzen, doch schon jetzt möchte ich
Ihnen einige Informationen über die Firma geben, in die
Sie eintreten. Das wird Sie sicherlich interessieren. Die
Firma heißt North Star. « Bellmann bückte sich, um
Papiere aus einer Schublade zu holen, und während er
wegschaute, strich sich Lord Wytham mit der Hand übers
Gesicht. Die Entlassung aus dem Kabinett hatte ihn
schon tief gekränkt, doch in den zwanzig Minuten mit
Bellmann hatte er Qualen kennen gelernt, von denen er
sich nicht hätte träumen lassen. Er war in Tiefen
gesunken, wo Anstand, Würde und Fairness wie trockene
Blätter im Wind fortgewirbelt wurden. Wie hätte er am
Morgen auch ahnen können, dass er noch vor der
Mittagsstunde seine Tochter verkauft haben würde und
--- was noch mehr wehtat ---, um so vieles weniger, als er
hätte verlangen können? Wenn er nun eine Million
verlangt hätte?
Doch die hätte er nicht bekommen. Bellmann wusste
nur zu gut Bescheid, einen Mann wie ihn konnte man
nicht schlagen. Lord Wytham kam sich vor, als hätte er
seine Seele verkauft und spürte, dass der Preis, den er
dafür erhalten hatte, nur ein Mund voll Asche war.
Bellmann breitete Papiere auf dem Schreibtisch aus.
Lord Wytham zwang seinem freundlichen Gesicht eine
interessierte Miene auf, beugte sich vor und versuchte
zuzuhören, als Bellmann mit seinen Erläuterungen
begann.
KRIEGSERKLÄRUNG
Jim hatte sein letztes Schauerstück, Der Vampir von
Limehouse, vom Lyceum Theater zurückgeschickt
bekommen. Mit dem Manuskript kam ein Schreiben des
Intendanten, eines gewissen Bram Stoker. »Was glauben
Sie, Mr. Webster«, fragte er, »hat es ihm gefallen, oder
hält er es bloß für Humbug?« Webster Garland nahm den
Brief und las laut: »>Sehr geehrter Mr. Taylor, Sie haben
mir Ihre Farce Der Vampir von Limehouse zu lesen
gegeben. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir für
die kommenden zwei Jahre ausgebucht sind, daher ist an
eine Produktion Ihres Stückes, dem Schwung und
Lebendigkeit nicht abzusprechen sind, nicht zu denken.
Allerdings halte ich für meinen Teil Vampire für passe.
Mit freundlichen Grüßen... < Ich weiß es nicht, Jim.
Immerhin hat er sich die Mühe gemacht, dir zu
schreiben.«
»Vielleicht sollte ich ihn besuchen und ihm alles selber
vorlesen. Wahrscheinlich hat er viele gute Stellen gar
nicht mitbekommen. « »Ist das eigentlich das Stück mit
dem Blut saugenden Lagerarbeiter und dem Lastkahn
voller Leichen?«
»Ja, genau. >Farce< nennt er das. Dabei ist es eine
blutrünstige Tragödie... «
»Blutrünstig trifft es genau«, schaltete sich Frederick
ein. »Es trieft von rotem Saft. Das ist kein Theaterstück,
das ist ein Eimer Himbeermarmelade. «
»Du hast gut lachen, Alter«, sagte Jim finster. »Aber ich
mache schon noch mein Glück. Mein Name wird in
Ruhm erstrahlen. « »Ich fresse einen Besen, wenn das
Stück jemals auf die Bühne kommt«, versetzte Frederick.
Es war Mittwochmorgen und viel Betrieb im Laden.
Der steife Geschäftsführer Mr. Blaine und Wilfred, sein
Stellvertreter, bedienten Kunden, die Fotochemikalien,
Kameras oder Stative kaufen wollten. Die kultivierte
Miss Renshaw machte an einem anderen Ladentresen
Termine für Porträtaufnahmen. Ferner gehörten zum
Geschäft ein aufgeräumter Herr in mittleren Jahren,
Arthur Potts, der die Kameras mit Platten versah, das
Atelier für die Aufnahme herrichtete, bei
Außenaufnahmen die Ausrüstung trug, die Platten
entwickelte, die Abzüge machte und mit Frederick
technische Einzelstücke anfertigte, die es nicht zu kaufen
gab. Schließlich war da noch ein etwas tumber junger
Mann in Jims Alter, Herbert mit Namen. Man hatte ihn
als Gehilfen eingestellt, doch er galt als hoffnungsloser
Fall - langsam, vergesslich und ungeschickt. Doch der
Junge hatte ein goldenes Herz, daher mochten ihn weder
Frederick noch Sally, noch Webster vor die Tür setzen.
Frederick stand hinten im Laden und betrachtete das
geschäftige Treiben. Die Räume wirkten einladend, die
Angestellten waren zuvorkommend, das Atelier war
bestens ausgestattet, alles strahlte Zweckmäßigkeit
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