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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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und einen Blick in die
Buchhaltung zu werfen, dankend abgelehnt hatte,
verabschiedete er sich von Henry Waterman und verließ
mit Mr. Paton die Bibliothek. Draußen fiel sein Blick auf
einen Theaterzettel, der ihn aus unerfindlichen Gründen
eine Weile beschäftigte.
Unterdessen war es fast acht Uhr geworden. Ein kalter
Wind, gemischt mit Regenspritzern, strich durch die
Dunkelheit, in der hier und da Gaslichter schimmerten.
Manche Fenster waren erhellt, und aus dem Eingang
eines nahen Gasthauses kam ein Schwall warmer Luft.
Männer, die nach Feierabend heimwärts strebten, und
Frauen, die mit ein paar Heringen im Einkaufskorb zu
ihren Familien eilten, gaben der Straße einen
betriebsamen Anstrich. Aber etwas hielt Fredericks
Aufmerksamkeit gebannt, und das war nicht das hübsche
Mädchen dort oder das lahmende Pferd, das gerade
vorbeikam, oder die beiden Jungen, die sich wegen einer
Mütze stritten.
Unter den Namen auf dem Theaterzettel war einer, der
ihm bekannt vorgekommen, aber dann gleich wieder
entfallen war. Die Paramount Music-Hall - diese Woche die Liste der auftretenden Künstler: Der Große Goldoni
mit seinen Tauben --- Mr. David Feldman, der Komiker
aus Lancashire --- Professor Laar, der Hypnotiseur ---
Miss Jessie Saxon, die temperamentvolle Sängerin ---
Mr. Graham Chainey, der quirlige Lilliputaner --- Jessie
Saxon.
Die alte Ambrotypie --- Nellie Budds Schwester! »Was
haben Sie denn, Mr. Garland?«, fragte Mr. Paton, als er
sah, wie Frederick stehen blieb, etwas fixierte, genauer
hinschaute, seinen Hut abnahm und sich am Kopf kratzte,
schließlich den Hut mit Schwung wieder aufsetzte und
mit den Fingern schnalzte. »Ein starkes Verlangen nach
Kultur, Mr. Paton. Es kommt mit Macht über mich.
Haben Sie nicht auch Lust? Wo ist denn hier die
Paramount Music-Hall?«
Mr. Paton hatte für einen Varieteebesuch nichts übrig.
Frederick dankte ihm für seine Freundlichkeit und ging
allein weiter. Die Paramount Music-Hall war ein
gemütliches Varietee-Theater, aber schon ein bisschen
heruntergekommen. Auch die angejahrten Nummern im
ersten Teil des Programms verstärkten diesen Eindruck.
Dem Ganzen fehlte ein wenig Glanz.
Jessie Saxons Auftritt kam in der Mitte der zweiten
Hälfte zwischen einem Komiker und einem Jongleur.
Frederick überkam ein leichter Schauder, als sie auf die
Bühne trat, denn sie ähnelte ihrer Schwester nicht nur
äußerlich, sondern auch in ihrem ganzen Verhalten: Sie
war ein Kind aus dem Volk, warmherzig, humorvoll und
derb. Sie verstand es, mit dem Publikum umzugehen.
Und die Leute genossen das, obwohl ihre Nummer nichts
Aufregendes bot: ein paar sentimentale Lieder und
dazwischen ein paar Scherze, die übliche Mischung.
Zweifellos war sie hier im Norden ein Publikumsliebling,
aber sie hatte es nie geschafft (oder gar nicht gewollt), in
London Erfolg zu haben.
Frederick ließ ihr seine Karte mit besten Grüßen
zukommen und fragte an, ob er sie zu einer Flasche
Champagner einladen dürfe. Seine Einladung wurde
prompt angenommen. Als er dann in der Tür ihrer
Garderobe stand, warf sie ihm einen anzüglichen Blick
zu und legte gleich los.
»Hui! Ein Prachtkerl von einem jungen Mann! Meine
sonstigen Verehrer gehen alle auf die Sechzig zu. Tritt
ein, Süßer, nimm Platz und erzähl mir von dir. Wie soll
ich dich denn nennen? Johnny, Charlie oder etwas
Italienisches auf O?«
Es war verblüffend. Es hätte die gleiche Frau sein
können - nur etwas angedunkelt. Der gutmütige Humor,
die warmherzige Anmache waren genau wie bei ihrer
Schwester, nur vielleicht eine Spur gezwungener. Ihre
Kostüme waren abgetragen und geflickt. Kein Zweifel,
sie ging durch schwere Zeiten.
»Um die Wahrheit zu sagen«, gestand er, »ich bin in
erster Linie wegen Ihrer Schwester, Nellie Budd,
gekommen. « Ihre Augen wurden großen, sie gab einen
leisen Ausruf des Erstaunens von sich.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie. »Irgendetwas ist
doch passiert. Ich weiß es... «
Sie setzte sich. Auch Frederick setzte sich, dann sagte
er: »Ihre Schwester ist im Krankenhaus. Sie ist gestern
von zwei Männern überfallen worden. Man hat sie
bewusstlos geschlagen. « Sie nickte. Sie schien blass
geworden unter der Schminke.
»Ich habe es gewusst«, sagte sie wieder. »Ich habe es
gefühlt. Das war bei uns beiden immer so --- wir fühlen
alles, was die andere bewegt --- und gestern hatte ich ein
ganz schreckliches Gefühl, ich kann es gar nicht
beschreiben, etwas, das mich niederstieß. Ich

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