Der Schatten im Wasser
Jahr, als Nathan verschwand.
Er erinnerte sich an die Diskussionen in der Schule am Tag danach. Das Für und Wider zum Thema Todesstrafe. Eva Hultman, ihre Lehrerin, hatte Zeitungsausschnitte mitgebracht, und jeder in der Klasse wurde nach seiner Meinung gefragt. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sollte jemand, der anderen Menschen das Leben nimmt, das Recht haben, sein eigenes zu behalten?
Ja, eigentlich schon, sie bereute es doch, sie hatte sich ja sogar bekehren lassen. Sie heiratete den Gefängnispfarrer, ließ sich bekehren und wurde religiös. Nur weil sie eine Frau und hellhäutig und noch dazu verdammt hübsch war, galten für sie noch lange keine anderen Regeln als für einen Mann. Wo bliebe da die Gleichberechtigung?
Karla Faye Tucker war hübsch. Das stimmte. Eva Hultman teilte Kopien der Artikel mit einem Foto der Verurteilten aus. Volles, lockiges Haar. Er dachte daran, wie der Tod sachte in ihre Adern rann, und eine merkwürdige Erregung erfüllte ihn. Wie sie mit ausgestreckten Armen dalag, festgeschnallt und fixiert. Wie eine Gekreuzigte. Dort lag und auf das Ende ihres Lebens wartete.
Sogar der Papst hatte um Gnade gebeten.
Hinter Eva Hultmans Brillengläsern leuchtete es auf.
»Jetzt hört euch das an! Es gibt eine einzige Person, die sie vor ihrer Hinrichtung hätte bewahren können. Weiß jemand von euch, wer?«
Mehrere Hände fuhren in die Höhe, auch Mickes.
»Der Gouverneur von Texas, dieser Bush.«
»Das stimmt. Und wisst ihr, was er sagte, dieser Mister George W. Bush? Obwohl selbst der Papst versuchte, ihn umzustimmen.«
»Er sagte nein!«
»Richtig. Er sagte nein. Aber nicht nur das. Er nutzte die Gelegenheit sogleich für einen kleinen Scherz, indem er Karla nachäffte, als sie um ihr Leben kämpfte. Er verstellte seine Stimme, sodass sie wie die eines nörgeligen kleinen Mädchens klang. Please dont kill me, pleeeeaaaase don’t kill me.«
Genau in dem Moment brach Madeleine Hellsing in Tränen aus. Lehnte sich über ihren Tisch und heulte.
»Ich habe die ganze Nacht lang an sie gedacht«, schniefte sie. »Wie sie auf der Matratze in ihrer Zelle lag, ob sie ein Nachthemd trug, ob sie überhaupt schlafen konnte … stellt euch vor, ihr wisst, was mit euch passiert, ihr wisst, das hier ist das allerletzte Mal, dass man sich hinlegt … und wenn sich die Zellentür öffnet, wird alles, alles, alles zu Ende sein.«
Er dachte gerne daran. Immer noch, obwohl es mehr als sechs Jahre her war. Oft schloss er sich in seinem Zimmer ein und rollte sich auf dem Überwurf seines Bettes ein. Beschwor das Bild der zum Tode Verurteilten herauf. Begann dort, wo Madeleine Hellsing zusammenbrach.
Karla Faye Tucker sitzt auf ihrer Pritsche. Dämmerung. Den Kleiderhaufen neben sich, jemand hat ihn bereitgelegt, da man würdig gekleidet sein muss, wenn der Tod eintritt. Wie ihre Hände zucken und zittern. Sie schafft es nicht allein, sich anzuziehen, und benötigt Hilfe. Sie kleiden sie an wie ein Kind. Den weißen Pullover und die Hosen, weiße Gummischuhe. Sie beugt sich hinunter, versucht, ihre Schuhe zu binden. Weißgekleidet wie eine Heilige und dennoch zu Tode betrübt. Vielleicht wendet sie sich für einen Moment ab, weil sie sich erbrechen muss. Möglicherweise verfängt sich dabei eine Locke ihres Haares in ihrem Mund und nimmt den schlammigen Geruch an, das warme, abgestandene Leben, das noch immer aus ihrem Inneren sickert. Die Wächter stehen bereit. Einer berührt fast schüchtern ihre Schulter. Okay, sie hat gemordet, sie hat mindestens einen unschuldigen Menschen erschlagen, doch an einem frühen Morgen wie diesem darf er sich ein wenig Liebenswürdigkeit gestatten.
Es ist Viertel nach fünf. Wimmert sie? Kann man überhaupt einzelne Worte verstehen? Ich bin bereit, Jesus zu treffen, und ich gehe nun zu ihm. Ich werde bei ihm auf euch warten.
Danach der Gang zur Hinrichtungszelle. Wie sie gestützt werden muss, unaufhörlich stehen bleibt und mit ihren kalten Fingerspitzen an den Wänden Halt sucht. Ein ums andere Mal das Weitergehen hinauszögert, sodass die Wachen schließlich auf die Uhr schauen.
Seien Sie so nett und kommen Sie jetzt, Mrs. Tucker, alle warten.
Sie nimmt sich zusammen, um ihnen Folge zu leisten. Und dennoch müssen sie sie das letzte Stück tragen. Schließlich ist sie in dem Raum mit den gekachelten Wänden angekommen, den sie so lange gefürchtet hatte. Er sieht genauso aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Der Fußboden nackt und blank. Nur mit
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