Der Schatten im Wasser
verloren, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Ariadne ging zum Fenster, oder besser, ihre Beine gingen, die von Wassereinlagerungen geschwollenen Beine mit Füßen, deren Hornhaut an den Fersen voller Risse war. Inzwischen schämte sie sich für ihren Körper, was nicht immer der Fall gewesen war.
Sie lehnte sich aus dem Fenster, rief aber nicht, sagte nichts, schaute nur. Wie sich ihr Chef mit kurzen, schnellen Schritten einen Weg durch das Gedränge bahnte, wie er sich im Zickzack voranarbeitete, ohne auszuweichen. Von hier oben schien sein Nacken zu schmal und lang für den runden Kopf, der gewachsen schien, als sei der Tumor im Begriff, ihn zu weiten. Den Sakko hatte er über die Schulter geworfen, denk an die Brieftasche, durchfuhr es sie, achte darauf, dass du sie nicht verlierst!
Eine plötzliche Hitzewallung überkam sie, ihre schmerzenden Lippen glühten. Sie fühlten sich mit einem Mal so unbeweglich an, waren unfähig, Worte zu formen. Schließlich vernahm sie Hans Peters Stimme wie von weit her.
»Was machen wir jetzt? Was sollen wir tun?«
Mühevoll wandte sie sich ihm zu.
»Stirbt er?«, flüsterte sie. »Hans Peter, wird Ulf sterben?«
Und während sie dieses bedrohliche Wort aussprach, begann sie zu weinen.
Hans Peter war nett. Das hatte sie schon immer gefunden. Er half ihr dabei, die Zimmer fertig zu putzen und den endlos langen Teppich zu saugen, den sie verabscheute. Sie erinnerte sich, wie angetan sie gewesen waren, Ulf und Hans Peter, als er im Flur des Obergeschosses ausgerollt wurde. Wenn man sie in das Geschäft mitgenommen hätte, hätte sie sofort nein gesagt. Allein schon der Farbe wegen, denn es war ziemlich töricht, einen hellen Teppich auf einem Boden zu verlegen, den Leute mit Straßenschuhen betreten. Männer haben davon keine Ahnung. Männer sind unpraktisch.
Sie kochte Kaffee und belegte ein paar Brotscheiben, die vom Frühstück übriggeblieben waren. Britta würde morgen früh frisches Brot bringen. Oder vielleicht auch nicht. Was sollte aus ihnen nur werden? Würde sie, Ariadne, nun ihren Job verlieren und gezwungen sein, zur Arbeitsvermittlung zu gehen? Sie konnte ja nur das hier. Außerdem fühlte sie sich im Hotel zu Hause, es war nicht zu groß, sondern gerade so, dass sie es schaffen konnte. Darüber hinaus konnte sie Christa mitnehmen, falls es nötig war, das hatte sie früher schon getan, und es hatte ihr Sicherheit gegeben.
»Das wird sich finden«, sagte Hans Peter tröstend. Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er biss von seinem belegten Brot ab und kaute gierig. Plötzlich fiel ihr auf, wie ähnlich Ulf und Hans Peter einander waren. Ungefähr gleich groß, schmal, spitzes Gesicht. Hans Peter war allerdings dunkelhaarig und hatte braune Augen, wie sie selbst. Sie führte den Becher zum Mund und trank vorsichtig. Jetzt erst bemerkte sie, dass er graue Haare bekommen hatte. Er war nicht länger dunkelhaarig. Es musste nach und nach geschehen sein, ihr war es nicht aufgefallen, weil sie ihn so regelmäßig sah. Außerdem lichtete sich sein Haar, er war dabei, eine Glatze zu bekommen, genau wie Ulf. Genau wie die meisten anderen Männer, wenn sie älter werden. Außer Tommy. Seine Haare waren dicht und stoppelig, zeigten noch keinerlei Zeichen von Ausdünnung.
»Er fliegt in die USA, dort helfen sie ihm«, erklärte Hans Peter. »Die Ärzte dort sind unglaublich gut, sie liegen weit vorn, was Onkologie betrifft, das habe ich gelesen und auch mehrfach in Fernsehberichten gesehen.«
»Onkologie«, wiederholte sie. Ein Wort, das sie kannte.
»Sie werden ihn heilen!«
»Ja, aber das kostet einiges, er braucht Geld. In den USA muss man die Ärzte direkt bezahlen.«
Dann fiel ihr ein, dass Ulf von einem Verkauf gesprochen hatte.
»Das Hotel«, sagte sie. »Da er wird Geld bekommen.«
»Wir werden sehen.«
»Und wir? Was wird aus uns? Wird er uns mitverkaufen?«
»Wir dürfen jetzt nicht den Teufel an die Wand malen. Das wird sich finden. Alles wird sich früher oder später finden.«
Er schenkte Kaffee nach. Es war halb fünf am Nachmittag. Langsam musste sie sich auf den Heimweg machen. Sie machte Anstalten aufzustehen, doch es war, als hielte sie etwas zurück. Hans Peter lächelte ihr aufmunternd zu.
»Beunruhige dich nicht, Ariadne«, sagte er besänftigend.
Sie atmete tief durch.
»Nein.«
»Versprich es. Wenn du dir Sorgen machst, wird es auch nicht besser.«
Sie schniefte. Verdammte Tränen. Wenn sie doch nur aufhören
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