Der Schatten im Wasser
einem einzigen Gegenstand ausgestattet, mitten im Raum, eine Art Bahre. Sie erblickt sie sofort und macht einen kläglichen Versuch umzukehren.
Ihre Würde, Mrs. Tucker, Ihre Würde!
Man hört den einen Wächter, den jüngeren, etwas sagen. Aber Karla Faye Tucker hat inzwischen aufgehört, sich zu wehren, und bewältigt die letzten Schritte bis zur Bahre selbst.
Danach die Riemen um ihren Rumpf und ihre Extremitäten.
Micke versuchte sich vorzustellen, wie er draußen in einem der Zuschauerräume mit den großen Glasscheiben saß. Als einer der wenigen Reporter, die eine Anwesenheitserlaubnis erhalten hatten, um darüber in seiner Zeitung zu schreiben. Er saß ganz vorn, so dicht am Geschehen, dass er deutlich die Schweißtropfen auf ihrer Stirn erkennen konnte, wie sie wie ein Fisch auf dem Trockenen zuckte, als der Mann in dem Arztkittel eintrat.
Sagte er etwas?
Guten Morgen, Karla. Jetzt ist es schließlich so weit. Vierzehn Jahre lang haben Sie gewartet, jetzt ist die Stunde gekommen. Und wenn Sie schräg nach links schauen, können Sie die Angehörigen Ihrer Opfer sehen. Sie können sie um Verzeihung bitten, das können Sie, und vielleicht erfahren Sie auch ihre Gnade. Doch das reicht nicht, denn Sie werden keine Ruhe finden, ehe nicht Ihre Strafe erfüllt ist.
Danach beugt er sich über sie. Und dann die Injektionen, drei an der Zahl.
Nummer eins lässt sie bewusstlos werden.
Nummer zwei lähmt ihre Muskulatur.
Nummer drei lässt die trägen Schläge ihres Herzens zum Stillstand kommen.
SIE WAREN IN EINE EIGENARTIGE kleine Stadt gekommen. Eigenartig deswegen, weil sie blau war. Industriegebäude und Hausfassaden, sogar die Straßenlaternen entlang des regennassen Kais waren blau gestrichen. Die Erklärung erhielten sie später von dem Mädchen an der Hotelrezeption. Es war geplant, die ganze Stadt in ein Kunstwerk zu verwandeln. Die Idee dazu stammte von einem lokalen Künstler und war in der Zeit vor der Millenniumwende geboren worden.
»Ich weiß nicht«, meinte das Mädchen leicht irritiert, als Jill sie danach fragte, was sie von der Veränderung hielt. »Eigentlich möchte man ja lieber selbst entscheiden.«
»Konnten Sie das denn nicht?«
»Na ja, es hat eine Menge Kontroversen gegeben.«
Der Vater der jungen Frau gehörte einem zunehmend militant auftretenden Flügel der Gegner dieser Aktion an und weigerte sich, sein Haus umzustreichen. Nicht einmal, wenn er die Farbe gratis bekäme, hatte er erklärt und die regionale Zeitung Lofotposten mit wütenden Leserbriefen bombardiert. Es war dieselbe Zeitung, in der auch der Künstler vorgestellt wurde und seinerseits die Gelegenheit nutzte, um seine eigenen Visionen darzulegen. Ein Sohn des Ortes. Er hatte in Krakau studiert. Doch dort sei er am deprimierenden Einheitsgrau der Umgebung beinahe zugrunde gegangen, wie er den Journalisten berichtete. In diesem Zusammenhang sei ihm die Idee gekommen, etwas zu verändern.
»Er muss offensichtlich der Überzeugung gewesen sein, dass es hier ebenso hässlich ist wie in Krakau«, rief die Frau voller Erbitterung aus. »Wie konnte er nur? Er hat doch genau wie wir seine Wurzeln hier!«
»Aber was halten Sie denn von dem Resultat?«, beharrte Jill.
»Er hat vollmundig angekündigt, dass alles bis zum vergangenen Jahr fertig sein würde. Ha! Niemals wird es fertig werden. Denn es wird immer Leute geben, die sich weigern, in einer künstlichen blauen Stadt zu wohnen.«
Jill hingegen war beeindruckt. Sie wanderte in all dem Blau umher und fotografierte, versuchte, Nuancen und Übergänge einzufangen. Sie sah ihre Heimatstadt Södertälje vor ihrem inneren Auge und stellte sich vor, wie es wäre, das gleiche Experiment dort durchzuführen. Scania und Astra. Das Krankenhaus. Die Sankt-Ragnhild-Kirche und das Betonfundament der Mälarseebrücke. Das Bahnhofsgebäude … ja, selbst das Hallgefängnis, das ein Stück außerhalb der Stadt lag. Welch einen Auftrieb das geben würde!
Zu ihrem Entzücken entdeckte sie, dass ein Teil der Gebäude mit literarischen Texten versehen war, handgemalt, direkt auf die Wände. Im heruntergekommenen Hinterhof eines Hafengebäudes fand sie ein Haikugedicht von Lars Saabye Christensen.
LICHTBLICK I.
Der Gärtner streicht sanft
Die Hand des Gärtners streicht sanft
Über die Rosen.
Während sie es las, kam eine Frau mit einigen Müllbeuteln aus dem Haus. Sie starrte Jill argwöhnisch an.
»Ich stehe nur hier und lese«, beeilte sich diese zu
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