Der Schatten im Wasser
erklären.
»Aha, und was?«
»Ja, schauen Sie her, es ist so unglaublich schön, ich bin ganz gerührt. Was für eine fantastische Art, die Poesie auf die Straße zu holen, sodass alle die Möglichkeit haben, sie zu sehen.«
Die Frau zuckte mit den Achseln. Obwohl sie in dem Haus arbeitete und jeden Tag zur Mülltonne ging, war ihr das Gedicht noch nie aufgefallen. Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
»Nein, ich habe nur das hier gesehen!«, sagte sie und wies auf ein schmierig hingekritzeltes Schimpfwort direkt daneben. Alte Fotze. Es war nicht schwer, den Sinn dahinter zu erfassen.
Zögerlich kam die Frau näher und las, stellte sich neben Jill und schaute sich den sorgfältig in Druckbuchstaben geschriebenen Text an.
»Tja«, sagte sie und ihr Lächeln veränderte sich, wurde schmaler. Sie genierte sich. »Sie wissen schon, man kommt einfach nicht dazu, man hat keine Zeit.«
»Die Hand des Gärtners streicht sanft über die Rosen.«
Jill versuchte sich die Zeilen einzuprägen, sie würde zu dem blauen Hotel zurückgehen und Tor davon erzählen. Er war an diesem Morgen so stumm und in sich gekehrt gewesen. Sie konnte manchmal einfach nicht an ihn herankommen.
Lichtblick. Gab es überhaupt einen Lichtblick für jemanden, der seinen Lebenspartner auf eine derart unabgeschlossene Art und Weise verloren hatte wie Tor? Unterwegs kam sie an einer Buchhandlung vorbei. Der Laden war nicht groß, er bot hauptsächlich Postkarten und Papierwaren an. Im Schaufenster lag ein aufgeschlagener Bildband mit eindrucksvollen Naturansichten. Fjorde und Sonnenuntergänge. Silhouetten von Bergmassiven. Sie ging hinein und kaufte ihn, bat darum, ihn als Geschenk zu verpacken. Als sie wieder auf die Straße trat, hatte es angefangen zu regnen. Ihre Nase und die Fingerspitzen waren ganz kalt.
Sie erreichte das Hotel und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Betrachtete ihr hageres Gesicht im Spiegel.
50 plus. Ich, Jill Viktoria Kylén, ein Weibsbild von 50 plus.
Sie verzog das Gesicht und rieb sich mit dem Ärmel ihres Pullis über die Zähne. Sie waren nicht mehr ganz weiß zu bekommen, wie sehr sie auch bürstete und schrubbte oder sie mit Salz putzte, wovon sie gehört hatte, dass es so effektiv sein sollte. Ihre Augen waren blau, doch sie besaßen nicht mehr dieselbe satte, tiefblaue Nuance wie früher. Sie hatten ihre ursprüngliche Farbintensität verloren, genau wie ihr Haar, das nunmehr ausgedünnt und straßenköterblond war. Normalerweise tönte sie es, behandelte es zu Hause im Badezimmer mit Henna. Doch jetzt hing es eher platt und strähnig herunter, noch dazu mit gespaltenen Spitzen. Vielleicht sollte sie es lieber abschneiden? Vielleicht war sie einfach zu alt für eine Frisur wie diese.
Er stand am halb geöffneten Fenster und rauchte, als sie kam.
»Kannst du nicht anklopfen? Mein Gott, hast du mich erschreckt!«
»Tor«, sagte sie schnell, noch bevor sie nachdenken konnte. »Wenn du mich jetzt zum allerersten Mal sehen würdest. Wenn du mich nie zuvor gesehen hättest.«
»|a?«
»Was glaubst du, wie glaubst du, dass …«
Zu ihrem Erstaunen warf er die Zigarette aus dem Fenster und schloss es. Kam zu ihr und nahm sie in die Arme.
DER VOGEL HATTE BEGONNEN, sich anders als sonst zu verhalten. Als beunruhige ihn irgendetwas. Er hockte mit angelegten Flügeln da und schrie, schrie so laut, dass es in den Ohren wehtat.
»Was ist los?«, flüsterte Justine.
Sie hatte im Zimmer des Obergeschosses gestanden und in das dichte, üppige Grün gestarrt. Es wurde langsam Abend, doch die Hitze war immer noch schwer und drückend. Sie meinte das Rufen von Affen zu vernehmen oder Fragmente der scharfen, sägenden Laute winziger Insekten. So hatte es sich nachts angehört, wenn die anderen schliefen und sie als Einzige wach war. Die Klänge und Schreie des Dschungels. Mit einem Mal fröstelte sie, fror regelrecht in der Wärme.
»Ich komme!«, rief sie und sprang die Treppen hinunter.
Der Käfig war in einem weiten Umkreis um den Kirschbaum angelegt. So konnte der Vogel auf den Ästen und Zweigen umherhüpfen und sogar fliegen, wenn er wollte. Normalerweise kam er zu ihr und streckte seinen schwarzen Schnabel vor, während er freundliche Krächzlaute ausstieß. Doch jetzt wirkte er eher schlapp und still. Sie drückte ihr Gesicht gegen den Draht und spürte seine Atemzüge wie kleine, leichte Windstöße an ihrer Oberlippe.
»Ich werde Eier für dich kaufen«, versprach sie ihm leise. »Eier mit einem
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