Der Schatten im Wasser
könnte, in allen möglichen Situationen zu heulen. Sie schluckte heftig. Merkte, dass Hans Peter bewusst das Thema wechselte.
»Übrigens, wie geht es eigentlich deiner Tochter? Es ist lange her, dass ich sie gesehen habe.«
»Christa. Ja, ihr geht es gut.«
»Sie ist inzwischen schon fast eine Dame, oder?«
»Sechzehn.«
»Oh, so alt schon? Ein Teenager.«
»Ja. Sie kommt aufs Gymnasium. Sie bekommt einen, wie heißt das, Schülerassistenten, einen, der ihr helfen soll.«
Bei dem Gedanken an ihre Tochter hatte sie es plötzlich eilig, sie musste jetzt nach Hause, sich sputen, zuerst musste sie die U-Bahn bis zum Brommaplan nehmen und dann den Bus raus nach Ekerö, eine umständliche Fahrt, und außerdem war sie müde. Dennoch blieb sie sitzen.
»Heutzutage gibt es so viele gute Hilfsmittel«, fuhr Hans Peter fort. »Das stimmt doch, oder?«
Sie nickte. Sie wollte gern über die verschiedenen Hilfsmittel, die es heutzutage für Sehbehinderte gab, reden, aber nicht gerade jetzt, dafür war im Moment kein Platz in ihrem Kopf.
»Seine Mutter«, begann sie leise. »Britta. Glaubst du, dass Britta es weiß?«
»Vielleicht.«
»Eine Mutter weiß so etwas«, entschied sie feierlich. »Eine Mutter weiß immer Bescheid.«
Sie fegte einige Krümel vom Tischtuch in ihre Hand und beförderte sie in ihren halbleeren Becher.
»Eine Mutter hat … wie soll ich sagen … eine Art Radar für ihr Kind. Und Ulf ist nun mal ihr Kind, für seine Mutter ist er das.«
Sie sah Britta vor sich, ihre runzligen, immer noch kräftigen Arme, die wachen kleinen Augen. Sah, wie sie sich mit Tränen füllten. Und fing selbst aufs Neue an zu weinen.
AUF DER STRASSE VOR DEM HAUS, in dem er mit Nettan wohnte, war wenig Platz zum Parken. Nettan war seine Mutter. Nettan mit der stoppeligen Punkfrisur. Nettan mit einem Drachen auf ihrem Bauch. Das Tattoo lugte aus ihrem Slip hervor.
Heute Morgen hatte sie wieder rumgenervt. Sie stand in der Küche unter der Abzugshaube und rauchte.
»Micke, wie alt bist du!«
Als würde sie es nicht selbst wissen. Sie, die ihn hervorgepresst hatte, 49 Stunden hatte es gedauert, und sie konnte hinterher einen ganzen Monat lang nicht aufs Klo gehen und vögeln schon gar nicht, aber dazu hatte sie andererseits auch überhaupt keine Lust gehabt. Alles das wusste er; jedes Detail.
»Was ist?«, fragte er unwirsch.
»Verdammt, Micke, du bist 22 Jahre alt. Es kann nicht mehr so weitergehen. Es wird Zeit, dass du dir was Eigenes suchst.«
Er war es so leid, wenn sie mit dieser Leier anfing. Denn in gewisser Weise war das auch ein Verrat.
Die Autos standen in langer Reihe entlang des Bürgersteigs geparkt, keine noch so kleine Lücke. Er fuhr eine Weile umher und hielt Ausschau, wusste aber schon im Voraus, dass es keinen Sinn hatte. Schließlich gab er auf. Stellte den Chevy am hintersten Ende des Kvarnbacksväg ab, auch wenn er ihn dort nicht im Auge hatte. Wer auch immer es darauf abgesehen hatte, konnte vorbeikommen und ihn demolieren. Das war schon einmal vorgekommen. Irgendein verdammter Idiot hatte den einen Spiegel abgebrochen und das Wort juck auf die Motorhaube gesprayt. Obwohl er es überpinselt hatte, konnte man die Buchstaben noch erkennen. Er fragte sich, wer es wohl gewesen war, ob es sich um dieselbe Gang handelte, die auch die funktionalistischen Villen der Neureichen im Drottningholmsväg besprayt hatte. Sobald das Geschmiere entfernt und die Hauswände saniert waren, kamen die Typen wieder. Er dachte, dass man sich irgendwo auf die Lauer legen und, sobald sie kamen, hervorpreschen müsste, um sie fertigzumachen. Ihnen die Scheiße aus dem Leib prügeln. Eigentlich müssten das diejenigen tun, denen die Häuser gehörten.
Als er die Straße entlangtrottete, sah er Nettan von der U-Bahn kommen. Sie trug ihre schwarzen Siebenachtelhosen und hohe Schuhe mit Absätzen, die ihr das Gehen erschwerten. In jeder Hand eine ICA-Tüte. Mit einem Mal merkte er, wie hungrig er war.
Sie erreichten die Haustür ungefähr gleichzeitig. Er öffnete ihr, sie brachte ein mühsames Danke hervor. Es war Viertel vor sieben. Nettan kam von der Arbeit. Gemeinsam mit einer anderen Frau hatte sie eine Secondhand-Boutique in der Fleminggata eröffnet. Kleider und rosa Krimskrams nannten sie den Laden. Die rosafarbenen Artikel konnten natürlich auch ganz andere Farben haben. Die Grenzen schienen fließend. Im Schaufenster saß zum Beispiel eine Gruppe potthässlicher giftgrüner Porzellankatzen. Er hatte sie
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