Der Schatten im Wasser
sie dazu auserkoren wurde? Es ist schwer, eine Antwort darauf zu finden. Vielleicht ihr Name? Schüstinn. Ihr merkwürdiger ausländischer Name. Doch es gab noch mehr Kinder in der Klasse, die ebenfalls außergewöhnliche Namen hatten, auch wenn damals noch nicht so viele Einwanderer in der Gegend wohnten. Ein Mädchen mit ungarischen Wurzeln hieß zum Beispiel Kinga. Das wurde ohne weiteres akzeptiert. Und in die Parallelklasse gingen die finnischen Zwillinge Jussi und Kari. Trotz ihres Dialekts gehörten sie eher zu den Tonangebenden.
Also vielleicht doch wegen der Sache mit ihrer Mutter? Aber hätte das nicht eher dazu führen müssen, dass man sie beschützte? Ein armes mutterloses Mädchen, wie Aschenputtel oder Schneewittchen. Nein, Kinder denken nicht unbedingt so, wie man es erwarten würde. Und außerdem hatte sie ja jetzt eine neue Mama. Noch dazu eine sehr hübsche. Und einen Papa, der steinreich war. Ihm gehörte der gesamte Sandykonzern mit allen Süßwarenfabriken, nicht nur in Schweden, sondern auch im Ausland. Justine stopfte ihren Schulranzen mit Sandypastillen voll, du bekommst eine Schachtel von mir, wenn ich mit dir zusammen sein darf. Geradeheraus. Ohne Umschweife. Versuchte sich Freundschaft zu erkaufen. Sie wirbelte mit den Armen, sodass die Schachteln nur so flogen, manchmal versteckte sie sie auch, ließ uns herumkriechen und danach suchen, und erniedrigte uns.
Ansonsten sah sie ungefähr so aus wie wir. Allerdings magerer. Dünn und staksig, sodass man sich an ihr stieß. Wenn man sie berührte. Doch das tat man nicht gerade gerne. Jedenfalls nicht freundschaftlich.
Die Wassertonne … Jetzt erinnere ich mich an den Tag, ich sehe ihn plötzlich klar vor mir. Es war Herbst, und wir waren seit ein paar Wochen wieder in der Schule. Justine nahm uns mit zu sich nach Hause. Wir hatten schon so oft nein gesagt, sie in den Bauch geboxt und auf die Wangen geschlagen, lass uns in Ruhe! Doch es schien, als spürte sie es nicht. Schließlich gaben wir nach und gingen mit. Vermutlich hatten wir auch Lust auf Süßigkeiten, so war es wohl. Aber kann man kleinen Kindern das verdenken?
Erst lagen wir hinter den Büschen und hielten uns versteckt, sie wollte sich vergewissern, dass ihre neue Mama nicht zu Hause war. Flora hieß sie, und dann trat sie in einem Kostüm und mit Nylonstrümpfen bekleidet aus der Tür. Wir fanden sie überaus hübsch. Sie trug extrem vornehme Kleider, solche, die man nur auf den Bildern in dem Modemagazin Damernas Värld fand. Sie stieg in ein Auto, das bereits dastand und auf sie wartete. Es roch nach Abgasen und Parfüm. Als das Auto weggefahren war, kroch Justine hervor und schloss die Haustür auf.
»Kommt!«, rief sie, und plötzlich war sie die Stärkere.
Als wir die Treppe zum Obergeschoss hochgingen, hatte ich die ganze Zeit Angst. Dort oben war es passiert. Sie zeigte uns den Fußboden, auf dem ihre Mama gelegen hatte und gestorben war. Justine war damals vier fahre alt gewesen und hatte es miterlebt. Die Sonne schien auf das Parkett. Es war schwierig, sich vorzustellen, wie ihre Mama dort mit leerem, gebrochenem Blick gelegen hatte, und dann all das Blut, doch diese Details hatten mich erst später beschäftigt, zu Hause, nachts, wenn ich einzuschlafen versuchte. Noch viele Monate lang.
Ich stand auf dem Boden in der Sonne, es war warm im Zimmer. Und dennoch hatte ich das Gefühl zu frieren.
»Gehen wir«, flüsterte ich, vielleicht quengelte ich auch mit einer wehrlosen, piepsigen Kleinkindstimme. »Komm, Berit, ich will heim. Wir essen bald, ich muss nach Hause.«
Doch Berit hörte nicht. Sie machte sich klein wie ein weiches, listiges Tier. Geschmeidig, begann sie, über die Teppiche zu kriechen. Schnüffelnd, wo hast du diese Süßigkeiten versteckt? Du hast uns doch Süßigkeiten versprochen, wo sind sie also?
Ich musste raus, Panik stieg in mir auf, aber Justine ließ uns nicht gehen.
»Hier«, antwortete sie, und wir befanden uns jetzt in ihrem Zimmer, in dem eine Kiste mit Pastillen unter dem Bett stand. Wir durften so viele Schachteln nehmen, wie wir wollten. Ich steckte ein paar in die Taschen, ich glaube, es waren welche mit Honig- und Fruchtgeschmack, denn die mochte ich am liebsten.
»Jetzt gehen wir aber, denn ich muss nach Hause. Sonst wird meine Mama unruhig.«
Nein, sie zog an unseren Kleidern, griff nach Berits Jacke und hielt sie fest. Ich erinnere mich, dass ihre Nägel abgekaut waren und die Haut drumherum ganz rissig und rot
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