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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
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keine Lust zum Lesen. Zu vieles ging ihm durch den Kopf. Die Ungewissheit, was Ulf und seine eigene Zukunft betraf. Ariadne. Justine.
    Genau in dem Moment, als er an sie dachte, rief sie an. Ihre Stimme klang kratzig und wie von weither. Als sei sie heiser.
    »Du bist einfach verschwunden«, beklagte sie sich.
    Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, ihr eine Nachricht zu hinterlassen, dass er heute etwas früher gehen musste.
    »Oh, tut mir leid, ich musste eher weg, ich hatte es ein wenig eilig.«
    »Warum denn?«
    »Es ist so einiges passiert, ich erzähl es dir, wenn ich nach Hause komme.«
    »Aber Hans Peter, wenn du es so eilig hattest, hättest du doch das Auto nehmen können.«
    »Ja, das hätte ich natürlich. Aber nun ist es eben anders gelaufen.«
    Sie schwieg eine Weile.
    »Wann kommst du nach Hause?«, fragte sie dann.
    »Morgen früh, sobald die Gäste ausgecheckt haben. Genau wie immer, das weißt du doch.«
    Er hörte in der Leitung, wie sie atmete.
    »Ich liebe dich«, sagte er.
    Sie antwortete nicht.
    »Justine!«
    »Ich habe Angst.« Es kam wie ein Keuchen.
    »Hör zu, es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest! All das Gewesene gehört der Vergangenheit an!«
    »Ja.«
    »Na, also. Du musst weitergehen, darüber haben wir doch schon so oft geredet. Du bist stark und erwachsen, es gibt nichts, was dir Angst machen müsste.«
    »Aber der Vogel«, flüsterte sie.
    »Der Vogel? Was ist mit ihm?«
    »Er benimmt sich so komisch, ich weiß nicht, was er hat.«
    »Wie, komisch?«
    »Er flattert umher und spielt verrückt.«
    »Glaubst du, dass er möglicherweise krank ist? Vielleicht hat er etwas Falsches gefressen.«
    »Nein … Er wirkt verängstigt. Als wenn hier draußen etwas wäre, das …«
    »Leg dich jetzt hin und schlaf, Liebling. Es ist schon spät. Ich komme, sobald ich kann.«
    Sie schwieg, er hörte, wie sie schluckte.
    »Willst du herkommen?«, fragte er. »Setz dich ins Auto und komm her, dann kannst du neben mir auf der schmalen Pritsche schlafen!«
    »Nein, Hans Peter. Der Vogel … ich wage es nicht, ihn allein zu lassen.«

GEWISSE ERINNERUNGEN würden niemals verblassen. Die Wassertonne auf dem Friedhof von Hässelby gehörte dazu. Sie stand an der Wand des kleinen weißen Gebäudes, das sie »das Haus der Toten« nannten.
    Das Spiel war nicht Jills Idee gewesen, ihre Fantasie war längst nicht so ausgeprägt wie Berits, nein, sie war eher der Schwanz, der mit dranhing und wedelte. Aber vielleicht hatte sie zumindest den Vorschlag gemacht, an diesem Nachmittag zum Friedhof zu gehen. Diffus kam die Erinnerung, obwohl sie sich dagegen wehrte, doch jetzt fiel es ihr ein, es war eine Möglichkeit gewesen, endlich aus dem Haus der Dalviks zu gelangen.
    Komm, wir gehen zum Grab deiner Mutter.
    Denn zuvor waren sie bei Justine in dem schmalen, hohen Steinhaus unten am See gewesen. Jill hatte es nicht gewollt, weder Berit noch sie wollten es. Eigentlich. Das Gebäude hatte etwas Bedrohliches, etwas, das einem Schauer über den Rücken und den Po laufen ließ. Sie wollten nicht hinein, es war, als riskiere man, dort festgehalten zu werden und Teil des Schrecklichen zu werden, was drinnen geschehen war.
    Justines Mama war in dem Haus gestorben. War einfach auf den Boden gefallen und gestorben. Eine Ader in ihrem Gehirn war geplatzt, das Blut war herausgeströmt und hatte ihren Schädel gefüllt, war aus Augen und Nase, Ohren und Mund gelaufen. So hatte Jill es sich vorgestellt. Der Anblick hatte sie nachts heimgesucht, ihr Albträume verursacht, schreiend vor Angst hatte sie sich an das warme, vom Schweiß leicht feuchte Nachthemd ihrer Mutter geklammert, und alles nur wegen Justine. Sie hätte Berit und Jill besser in Ruhe gelassen, sie nicht zwingen dürfen, sie zu begleiten und ihr Haus zu betreten.
    Sie kaufte uns sozusagen, dachte Jill, deshalb geriet sie auch in die Position der Unterlegenen. Wir gingen in dieselbe Klasse, und Berit und ich hatten einander gefunden, wie kleine Mädchen einander finden können, verwuchsen miteinander, wurden ein und dieselbe Person, Justine hingegen war der Keil, der sich andauernd zwischen uns schob. So erinnere ich es jedenfalls jetzt, als Erwachsene. Keiner wollte mit ihr zusammen sein, bereits vom ersten Tag an war sie die Außenseiterin, jemand, den es in jeder größeren oder kleineren Gruppe gibt, sowohl unter Kindern als auch Erwachsenen. Es ist, als brauche die Gruppe einen Sündenbock.
    Was hatte es also mit Justine auf sich, dass ausgerechnet

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