Der Schatten im Wasser
INZWISCHEN DUNKEL GEWORDEN, eine wolkenverhangene Spätsommernacht, die Regen ankündigte. Oh, wie angenehm das wäre, ein frischer, wohltuender Schauer, der all die Schwüle vertreiben würde. Justine hatte im Drei Rosen angerufen und mit Hans Peter gesprochen. Für eine Weile hatte sich alles leichter angefühlt, doch nun begann sich die Angst langsam wieder einzuschleichen. Ihre Hände zitterten ein wenig, die Lippen und ihre Mundhöhle fühlten sich trocken an, und sie bekam kleine kurze Hustenanfälle. Mit einer Kraftanstrengung presste sie die Handflächen gegeneinander, zwang sich, sie stillzuhalten. Sie dachte, dass ihr eine Dusche gut täte, dass sich alles anders anfühlen würde, wenn sie sauber und rein wäre.
Der Tag war heiß gewesen, und sie hatte viel geschwitzt. Sie löschte das Licht und ging ins Badezimmer, zog sich aus und wollte gerade den Wasserhahn aufdrehen. Da hörte sie ein Geräusch auf der Treppe, ein Geräusch, das nicht dort hingehörte. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Horchte, öffnete schließlich unendlich langsam die Tür. Jetzt war alles still. Mit ungeschickten Händen und ständig horchend zog sie ein Kleidungsstück nach dem anderen wieder an. Würde sie wie ein nacktes Tier im Badezimmer gefangen werden? Nein, niemals! Plötzlich kam ihr der Film Psycho in kleinen, scharfgestochenen Sequenzen in den Sinn, die ausgefeilte Musik, das Wasser, das sich rot färbte.
Sie stand in der Bibliothek, und draußen war es dunkel. Der Vogel. Er sollte längst an die Nächte gewohnt sein, müsste es in den Genen haben, dass die Nacht zum Tag gehört, ja zum ganzen Leben. Er war zwar schon so lange bei ihr. dass er inzwischen viele seiner Instinkte verloren haben dürfte, jedoch nicht den Tag- und Nachtrhythmus, denn jedes Mal, wenn es dämmerte, krächzte er erwartungsvoll, flog zu ihr und nahm mit imponierender Geschicklichkeit seinen Platz auf ihrer Schulter ein. Seine Flügel hatten nie ausprobieren können, eine weitere Strecke zu fliegen, immer nur abgebrochene Runden im Haus. Sicher, es war hoch und über mehrere Etagen gebaut, aber er konnte sich dennoch nie richtig austoben.
Dort unten konnte sie jetzt, da sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die Voliere erkennen, das Drahtgeflecht, das um den Baum herum schimmerte. Der Vogel hielt sich dort drinnen auf, das wusste sie, er hatte sich auf seinem Schlafast oder in dem kleinen Häuschen niedergelassen. Was beunruhigte ihn nur? War etwa jemand da draußen, jemand, der ihm Böses wollte?
»Natürlich nicht!«, versuchte sie sich in gedämpftem Ton zu beruhigen, doch ihre Stimme brach, war nicht stark genug.
Während ihres Aufenthalts in Malaysia hatte sie den Vogel allein zurückgelassen. Es war die einzige Möglichkeit gewesen. Er zog sich oben auf den Dachboden zurück, wo sie ihn mit Futter und Wasser versorgt hatte. Sie erinnerte sich noch, wie es war, als sie nach Hause zurückkam. Der abgestandene Geruch nach Vogelkot, wie er auf sie zugeflogen kam und ihr mit seinen Flügeln über das Gesicht schlug.
Die darauffolgenden Tage: Sie kniete auf dem Boden und scheuerte. Der Vogel hockte auf ihrem Rücken. Wände und Fußböden, von oben bis unten, das gesamte Haus. Wie ein Ritual, um alles in den Zustand zurückzuversetzen, in dem es einmal gewesen war.
In der Zeit vor Nathan.
AUF DER ANDEREN SEITE des Hemslöjdsväg lag eine Kleingartensiedlung. Micke joggte dort immer, er lief die idyllischen Kieswege entlang, umrundete den Lillsjö und kehrte dann allmählich wieder nach Hause zurück. Er achtete auf seinen Körper, war darauf bedacht, sich fit zu halten. Nathan hätte das gefallen, er war Nathans Sohn und somit einer, der Strapazen bewältigen konnte. Phasenweise lief er regelmäßig, so gut wie jeden Tag, unabhängig davon, ob Unwetter oder glühende Hitze herrschte.
Doch manchmal schienen ihn seine Kräfte ganz plötzlich zu verlassen. Er wusste nicht, wodurch dieses Phänomen ausgelöst wurde. An solchen Tagen wachte er morgens schon völlig erschöpft auf, sowohl körperlich als auch seelisch. Manchmal hatte es auch damit zu tun, was Nettan ihm wieder an den Kopf geworfen hatte. Sie konnte so verdammt unsensibel sein. So war sie zum Beispiel manchmal so dreist, die Tür zu seinem Zimmer aufzureißen und wie eine Geistesgestörte zu brüllen:
»Verdammt, ich halte es nicht mehr aus, ich halte es einfach nicht aus!«
Als sei alles Mickes Schuld. Ihr ganzes verdammtes, tristes Dasein. Trägt nicht jeder
Weitere Kostenlose Bücher