Der Schatten im Wasser
Schlüsselloch. Zu meiner Enttäuschung war alles stockdunkel.
Ich wollte mich gerade beschweren, sie beschimpfen. Doch genau in dem Moment hörten wir Schritte auf dem Kiesweg. Es war der Mann, den wir vorher gesehen hatten. Wir versteckten uns, bis er verschwunden war.
»Wollen wir spielen?«, fragte Justine, ich meine jedenfalls, dass sie es war.
Im selben Augenblick entdeckten wir die hohe Wassertonne, die unter einer der Dachrinnen stand. Eine, in der das Regenwasser gesammelt wurde, wahrscheinlich zum Gießen. Berit sagte:
»Ich weiß es! Wir spielen Fisch. Und du, Justine, bist unser kleiner Fisch.«
Sie protestierte nicht. Sie machte alles mit, denn so waren eben die Regeln.
»Muss ich mich ausziehen?«
Musste sie es? Die Antwort lautete ja. Denn wer hatte schon jemals von einem Fisch mit Kleidern gehört?
Noch heute kann ich ihre kleine, zusammengeschrumpfte Scheide zwischen den spindeldürren Oberschenkeln vor mir sehen, die ganz anders als meine aussah, die rund und vorgewölbt war, so wie Berits, die ich gesehen hatte, als wir zusammen badeten, und die genauso war, wie sie aussehen sollte. Sie reichte uns ihre Kleidungsstücke, eins nach dem anderen, und wir legten sie auf den Kiesboden.
Sie schaffte es nicht, allein hineinzuklettern, dafür war die Tonne viel zu hoch. Also umfassten wir ihren knochigen Körper und hoben sie hinein. Das Wasser spritzte hoch, die Ränder an der Innenseite der Tonne waren grün. Sie schrie auf, als das Wasser gegen ihre nackte Haut schlug, und einen Augenblick lang dachte ich, dass sie weinte. Aber wie sich zeigte, weinte sie nicht, sondern sie lachte. Schrill und übertrieben:
»Jetzt bin ich euer Fisch!«
Sie hüpfte und plantschte, sodass es bis zu uns nach draußen spritzte.
»Hör auf!«, rief Berit und schlug sie.
Aber sie hörte nicht auf.
Wir hielten Ausschau nach dem älteren Mann, hatten Angst, dass er uns hören könnte.
»Der Mann kommt!«, rief ich, und erst dann wurde sie still im Wasser. Wir sahen ihr an, dass sie fror. Berit schlug vor, dass wir ein paar Würmer ausgraben könnten, um unseren kleinen Fisch zu füttern, doch da wurde sie völlig wild und versuchte, aus der Tonne zu klettern.
»So ein Fisch bin ich nicht, ich fresse nur Blätter!«, rief sie.
Wir schlugen sie wieder, jetzt erinnere ich mich daran. Obwohl wir ihr nicht wehtun, sie nur zum Schweigen bringen wollten. Denn Fische sprechen nicht, sie sind stumm, wir spielten immerhin ein Spiel, ein Spiel, bei dem sie ein Fisch war. Wir liefen los und holten uns lange Stöcke und taten erst so, als angelten wir, aber dann schlugen wir sie, und sie stand nur da, die Finger um den Rand der Tonne geklammert, aber sie weinte nicht, nahm es einfach so hin.
Berit und Jill hatten als Erwachsene nie wieder darüber gesprochen. Jedenfalls nicht über dieses Erlebnis. Über Justine hingegen schon, wenn auch in einer Weise, in der sie auch die anderen auf dem Klassenfoto abhandelten. Mit witzigen Kommentaren und lustigen Erinnerungen. Justine, ganz rechts außen stehend. Das Haar zur Seite gestrichen und zu einem Teil mit einer Klemme festgesteckt. Kein anderes Mädchen sah so aus. Die meisten trugen einen Pony oder hatten Locken. Fräulein M, wie auch immer sie nun hieß, mit Wickelrock und Halbschuhen. Und ganz vorne auf dem Fußboden des Klassenraumes saßen eng umschlungen die unzertrennlichen Freundinnen Berit und Jill.
Als Jill 30 wurde, hatte Berit diesen Fotoausschnitt vergrößern und einrahmen lassen. »Für meine allerbeste Freundin.« Jill besaß das Bild noch immer und hatte es über ihrem Bett hängen. Zwei pausbäckige Neunjährige mit Kniestrümpfen und Sandalen.
Berit hatte eine kleine Rede gehalten.
»Das hier ist Jill, die ich schon ewig kenne, mit der ich aufgewachsen bin. Wir hatten das Glück, in stabilen Familienverhältnissen geborgen aufwachsen zu dürfen und weder Streitereien oder Scheidungen noch geistige Engstirnigkeit, die in so manchem Elternhaus existiert, erleben zu müssen. Die warmherzige Atmosphäre unserer Kindheit hat uns geformt und zu liebenswürdigen und klugen Menschen gemacht. Oder?« Sie hielt inne und kicherte auf jene für sie so typische Art. Alle lachten.
»Wir haben uns niemals gestritten, Jill und ich«, setzte sie ihre Ansprache fort. »Wir sind Blutsschwestern, und wir werden so weitermachen, bis wir 90 sind. Und dann werden wir uns gemeinsam von einem Felsen stürzen. Hand in Hand mit unseren krummen Altweiberfingern.«
ES WAR
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