Der Schatten im Wasser
war.
»Erst muss ich euch noch etwas zeigen, das im Keller ist!«
Wir gingen die schmale Treppe hinunter. Dort befanden wir uns auf jeden Fall schon näher am Ausgang. In einem der grau gestrichenen Kellerräume stand ein großer Waschzuber, so ein altmodischer, wie das in älteren Häusern früher so üblich war. Und dort, direkt vor unseren Augen, erzählte Justine, was Flora mit ihr zu machen pflegte, wenn sie böse gewesen war. Sie klang fast stolz, als sie es erzählte, das Kinn prahlerisch vorgeschoben.
»Manchmal setzt sie mich dort ins Wasser hinein. Sie tut es, um meinen Trotz wegzukochen.«
Wir starrten sie ungläubig an.
»Nein!«, entgegnete Berit.
»Doch!«
»Das glauben wir nicht.«
»Sie tut es aber.«
»Und dein Papa? Was sagt er dazu?«
In dem Moment wandte sie sich ab und weigerte sich zu antworten.
Tortur. Total übertrieben. Sie hatte es erfunden, um uns zu beeindrucken. Denn, wenn es wahr gewesen wäre, würde es früher oder später herausgekommen sein. Hätte jemand Anzeige erstattet. Also log sie, das war doch klar. Hätte man es ihr sonst nicht auch angesehen? Wäre ihr Körper nicht durch Brandblasen entstellt gewesen? Hätte nicht unsere Lehrerin, wie hieß sie noch gleich, irgendwas mit M, hätte sie nicht Alarm geschlagen, wenn sie irgendetwas dergleichen entdeckt hätte? Und das hätte sie doch, oder? Entdeckt, meine ich. So etwas muss eine Lehrerin doch merken.
Das war das Blöde an Justine. Dass sie log und übertrieb. Dass sie absolut keine Mühen scheute, uns unbedingt dazu bringen wollte, sie zu bemitleiden. Uns zwingen wollte, sie zu uns gehören zu lassen.
»Wir gehen jetzt zum Friedhof und sehen nach dem Grab!« Ja, doch, ich war es, die das sagte, um endlich rauszukommen, wir waren wie Gefangene in diesem Haus, und jederzeit konnte Flora zurückkommen, die hübsche Flora mit ihrer geraden, ebenmäßigen Nase und den festen Fingernägeln. Rot waren sie, wie Hagebutten. Spitze Nägel direkt in die Haut hinein.
Einmal holten wir Flora, aber das war später. Es war, als Justine auf den Klippen gestürzt war. Wir rannten den ganzen Weg zum Haus, und sie öffnete mit Papilloten im Haar.
Justine liegt oben auf dem Berg, bitte kommen Sie schnell!
Da wurde sie böse, wollte wohl nicht, dass jemand sie in dieser Aufmachung sah. Sie band sich ein Tuch übers Haar, sodass ihr Kopf höckerig und grotesk aussah, und lief in ihren Stiefeln hinter uns her. Sie war furchtbar aufgebracht und schimpfte die ganze Zeit, ich habe euch doch gesagt, dass ihr nicht auf den Felsen spielen sollt.
Justine lag noch dort, wo wir sie verlassen hatten, allerdings hatte sie es geschafft, fast alle Kleidungsstücke wieder anzuziehen. Ihr eines Bein lag merkwürdig und in ekelhafter Weise verdreht da. Wir halfen, sie nach Hause zu tragen. Sie gab keinen Mucks von sich.
Danach kam sie nicht mehr zur Schule.
Ich merke, dass ich die ganze Zeit abschweife. Ich mag nicht daran denken. Wir gingen also zum Friedhof hinunter, es stimmte natürlich nicht, dass ich nach Hause musste, ich hatte es nur vorgeschoben, erfunden. Ein älterer Mann war gerade damit beschäftigt, zwischen den Gräbern zu harken. Wir schauten nach dem Grab von Justines Mutter, sie fand den Weg sofort. Sie lehnte sich gegen den Grabstein.
»Hier unten liegt meine Mama, hier in der Erde unter uns.«
Es war ein heller, sonniger Tag, an dem keine von uns Angst bekam. Und dennoch musste ich die ganze Zeit daran denken, wie es wäre, wenn die Hände von Justines Mama sich plötzlich durch die Erde nach oben graben und unsere Knöchel ergreifen würden. Uns womöglich zu sich nach unten ziehen würden. Uns dafür bestrafen würden, dass wir nicht mit ihrer Tochter spielen wollten.
Justein herein, Justind verschwind, Justein herein und Pisse fein.
Diesen merkwürdigen Reim sangen wir, Kinder verstehen sich aufs Reimen. Wir entfernten uns in Richtung des niedrigen weißen Gebäudes, in dem sich die Toten befanden, diejenigen, die noch nicht unter die Erde gebracht worden waren. Die Tür war verschlossen, ich erinnere mich, wie Berit versuchte, sie zu öffnen. Sie lugte durch das Schlüsselloch und rief aufgeregt, dass sie da drinnen einen Sarg sehen könnte. Er ist braun, und der Deckel ist offen. Da liegt jemand drin.
»Lass mich sehen!«, verlangte ich, denn in dem Moment wollte ich genau dasselbe erleben wie sie, ich wollte einen richtigen Toten sehen. Ich schubste sie zur Seite und hielt mein eines Auge vor das
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