Der Schatten im Wasser
sie zu überreden, doch sie hatte sich gesträubt, all ihre Erlebnisse während dieses unseligen Aufenthaltes in Malaysia hatten in ihr einen Widerwillen gegenüber Flugzeugen und Reisen ausgelöst.
Erst nach fast einem Jahr hatte sie ihm erzählt, was eigentlich genau geschehen war, zögerlich, immer wieder von Weinkrämpfen unterbrochen. Da war ein Mann, der Nathan hieß. Er hatte sie mit in den Dschungel genommen.
»Wir waren seine erste Gruppe, er hatte so große Pläne. Er leitete Abenteuerreisen, weißt du, mit Leuten, die durch den Dschungel wandern und dort schlafen und eine Zeit lang dort leben wollen und die sich von Wurzeln und Blättern und Ähnlichem ernähren. Und Affen, sie schossen einen Affen, einer der Männer, die uns begleiteten, ein Eingeborener, er gehörte dem Orang-Asli-Volk an.«
Stockend und in kleinen Brocken.
»Ich will nie, nie mehr … und diese kleinen, glitschigen Egel, die sich in der Haut festsaugen, leeches … ich will nie mehr, hörst du!«
Nathan war ihr Geliebter gewesen. Er hatte sie mit in den Dschungel genommen und ihr Durchhaltevermögen getestet. Eines Morgens, als sie erwachten, war er verschwunden. Sie suchten stundenlang, tagelang. Doch sie fanden ihn nicht. Schließlich mussten sie den schweren Entschluss fassen, ohne ihn abzureisen. Ihr Blick wurde starr und leer, als sie das sagte, wir waren gezwungen, ihn zurückzulassen und ohne ihn aufzubrechen.
Als sie nach schweren Strapazen endlich bewohntes Gebiet erreichten, trat eine weitere Katastrophe ein. Damit Justine nicht allein sein musste, ließ man sie das Zimmer mit einer jungen Schwedin teilen, die auch zur Gruppe gehörte. Sie hieß Martina und war die Tochter des berühmten Konzertpianisten Mats H. Andersson. Nathan hatte sie engagiert, damit sie eine Reportage über sein Unternehmen machen sollte. Gleich am ersten Tag im Hotel stahl sich ein Dieb in das Zimmer der Frauen und erstach Martina mit einem Messer.
»Mein Messer, mein Parang«, flüsterte Justine und bohrte ihr Gesicht in Hans Peters Pullover. »Er nahm meinen Parang und erstach sie. War es mein Fehler, dass er das tat? Hätte ich das Messer wegwerfen sollen? Ja, ich hätte es tun müssen, ich werde mich sowieso nie mehr im Dschungel aufhalten, was sollte ich also mit einem Messer … einem Dschungelmesser … ich wusste es … ich hatte es von Nathan geschenkt bekommen, und ich erinnere mich noch daran, was ich dachte, nämlich dass es Unglück bringt, ein Messer zu verschenken.«
Sie weinte, und ihre Finger wurden weiß und eiskalt. Er saß neben ihr und hielt sie umarmt, wiegte sie hin und her.
»Es ist klar, dass es nicht dein Fehler war, das verstehst du doch, sich mit solchen Gedanken zu quälen führt zu nichts.«
Sie selbst hatte sich in der Dusche aufgehalten, als es geschah. Sie war vor Schreck wie gelähmt gewesen. Soweit Hans Peter es verstand, hatte man sie nach dem Mord nicht besonders gut behandelt. Die örtliche Polizei ließ barsche Verhöre in vergitterten, zellenähnlichen Räumen durchführen. Sie wurden von einem hageren Mann mit verhärmtem Blick und unreiner Haut durchgeführt.
Hans Peter war erschüttert, als er erfuhr, was sie alles durchgemacht hatte. Was sie nötig gehabt hätte, wäre eine Therapiegruppe für traumatisierte Menschen wie sie, freundliche, warme Stimmen, in deren Obhut sie sich ihr Trauma von der Seele reden konnte. Doch in einem Land wie Malaysia hatte man für solche Hätscheleien natürlich nicht viel übrig.
Die Beeinträchtigungen ließen sie krank und labil werden. Und obgleich inzwischen so viele Jahre vergangen waren, plagten sie manchmal immer noch Albträume.
Alphonse Daudet. Hans Peter nahm das Buch zur Hand und las den Teil des Klappentextes, in dem der Autor vorgestellt wurde. Er machte es immer so, versuchte, so viel wie möglich über die alten Klassiker zu erfahren, wie sie als Menschen waren, wie sie gelebt hatten. Daudet schien ein erfolgreicher Mann gewesen zu sein. Seine Bücher wurden in großen Auflagen gedruckt. Er war glücklich verheiratet und mit der Zeit auch ziemlich wohlhabend geworden. Aber die Sünde straft sich bekanntlich selbst. In seiner Jugend hatte er nämlich über die Stränge geschlagen und sich eine latente Syphilis zugezogen, die eines Tages aufflammte und ihn an den Rollstuhl fesselte. Schließlich brachte sie ihn auch ums Leben. Er starb 57jährig, als er gerade zu Abend aß.
Nur ein paar Jahre älter als ich, dachte Hans Peter.
Er hatte heute Abend
Weitere Kostenlose Bücher