Der Schatten im Wasser
die Verantwortung für sein eigenes Leben? War es nicht genau das, was sie immer sagte?
»Keiner nimmt dir irgendetwas ab, in diesem Leben bekommt man nichts umsonst, das musst du dir klarmachen. Man muss die Dinge selbst in die Hand nehmen, wenn man Erfolg haben will. Du darfst nie aufgeben, Micke, du musst weiterkämpfen, so sinnlos es dir auch erscheinen mag.«
Wie ein Erweckungsprediger stand sie manchmal da und belehrte ihn.
Er sollte ausziehen. Sobald er Ordnung in sein Leben gebracht hatte, würde er ausziehen, nicht einen Tag länger als nötig hier wohnen bleiben. Doch zuerst musste er einen Job finden, der ihm wirklich zusagte. Nicht irgendeinen blöden Job. Was genau er sich vorstellte, wusste er allerdings noch nicht. Aber das würde sich zeigen, wenn man ihn nur ein wenig in Ruhe ließe. Und dann würde sie ihn endlich loswerden und er sie. Dann würde er sich etwas Eigenes suchen.
Während einer Joggingrunde lernte er Henry und Märta kennen. Sie waren alt, bestimmt über achtzig, er hatte nie danach gefragt. So etwas fragt man nicht, das begriff sogar er.
Henry und Märta wohnten in einem der kleinen Häuschen in der Siedlung, sie zogen jedes Frühjahr, sobald das Wasser angeschlossen wurde, dorthin und blieben bis Anfang September. Dann kehrten sie widerwillig in ihre kleine Wohnung in Bandhagen zurück.
Eines Abends, als Micke wieder seine Runde drehte, stand Märta plötzlich auf dem Weg. Sie hatte ihren Rollator durch die Pforte manövriert und hing nun über ihn gebeugt, mit blassem, nahezu durchscheinendem Gesicht, obwohl es mitten im Sommer war. Eine schlecht sitzende braune Hose reichte ihr bis über den Bauch und wurde mit einer Schnur direkt unter der Brust zusammengehalten. Der Pullover war ein wenig verrutscht, sodass eine runzelige Schulter mit einem Träger ihres BHs hervorlugte.
»Oh, mein Lieber … hättest du einen Moment Zeit?«
Sie streckte ihren Arm aus, die Haut hing in grauen Falten herab. Hielt ihn auf, griff sogar mit ihren krummen Weibsfingern nach ihm.
»Worum geht’s?«, fragte er nervös.
»Ja, verstehst du … unser Kater.«
»Wie bitte?«
»Ein ziemlich dicker brauner, oder besser gesagt roter. Ja, man kann sagen, ein roter.«
Micke stand vornübergebeugt und schnaufte. Da er ohnehin seinen Rhythmus verloren hatte, brauchte er sich nicht weiter unnötig unter Druck zu setzen.
»Und was ist mit ihm?«
»Er ist verschwunden.« Das Kinn der Alten begann zu zittern, als würde sie jeden Moment zu weinen anfangen.
»Aha, und?« Er zuckte mit den Achseln, der Schweiß klebte. Er trug Shorts und ein Ringerhemd und hatte das Bedürfnis, sobald wie möglich zu duschen. Wurde plötzlich schüchtern.
»Wir haben dich schon öfter hier gesehen, Junge, verstehst du? Du läufst ja ziemlich oft durch unsere Siedlung. Also dachte ich, ob du ihn vielleicht irgendwo entdeckst. Du saust doch häufig hier entlang. Räven heißt er, wie der Fuchs, wir nennen ihn jedenfalls so. Er ist zwar ein Kater, aber wir nennen ihn Räven.«
Er nickte schnell.
»Okay. Räven. Hab ich kapiert. Ich verspreche, Ausschau zu halten.«
Sie klammerte sich an ihrem Rollator fest.
»Du bist ein netter Mensch, das sehe ich dir an. Und wenn du Räven findest, dann verspreche ich …«
»Ist schon okay«, unterbrach er sie. »Völlig okay.«
Erstaunlicherweise entdeckte er das Katzenvieh tatsächlich. Jedoch erst bei der Joggingrunde am nächsten Tag. Er war gerade auf dem Heimweg, als er ein Scharren hörte. Er hatte pinkeln müssen und sich in die Büsche geschlagen. Und dort entdeckte er ihn. Ein altertümliches Modell von Getränkekasten, umgedreht und mit zwei Steinen beschwert. Darunter.
Der Kater war unverletzt, aber ziemlich mitgenommen. Wer konnte nur so etwas Sinnloses und Grausames tun?
Er ging in die Hocke und versuchte, das Tier zu locken.
»Räven … Mieze, bist du das?«
Ihm wurde heiß um den Hals herum, denn er war nicht an Tiere gewöhnt.
Vorsichtig hob er die Steine hoch und drehte den Getränkekasten ganz langsam um, Millimeter für Millimeter. Streckte seine Hand vor und berührte das Fell des Katers. Er erwartete, dass das Tier fauchen würde. Vielleicht seine Krallen ausfahren und ihn kratzen würde. Er hatte damit gerechnet, einen Blutstropfen auf seiner Hand zu entdecken. Dann wäre er wirklich sauer geworden. Richtig stinksauer! In seinen Muskeln kribbelte es.
Stattdessen kroch der Kater auf ihn zu und presste sich gegen seinen Arm, gleichzeitig begann
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