Der Schatten im Wasser
und er sank immer tiefer ein und geriet ins Wanken. Hinter ihm bewegte sich etwas. Diese Frau aus dem hohen weißen Haus. Diese Justine.
Er schaute nicht auf die Uhr, griff einfach nach dem Telefonhörer und wählte Jills Nummer. Es war ihre Privatnummer, er konnte sie auswendig. Sie hatte sie auf ihr Handy umgeleitet. Sie war auf der Arbeit, doch das begriff er zuerst nicht. Er hörte an ihrer Stimme, dass er störte, und obwohl sie ihm versicherte, dass er es nicht tat, wusste er es. Doch er sah sich gezwungen, sich den Traum von der Seele zu reden. Sie hörte ihm zu und stellte ein paar Fragen. Im Hintergrund klingelte ein Telefon. Bis sie ihn schließlich unterbrechen musste: »Kann ich dich später zurückrufen, es ist gerade einiges los hier.«
Da schämte er sich und legte auf.
Er hatte wohl aufgrund der intensiven Beschäftigung mit den Fotos von Berit geträumt. Ansonsten geschah das immer seltener. Im Gegenteil, er hatte bereits Schwierigkeiten, sich ihrer Gesichtszüge zu erinnern, sie sich vor Augen zu führen. In diesem Traum hatte sie sich von ihm abgewandt, gesichtslos.
Er zündete sich eine Zigarette an und bekam sofort einen Hustenanfall. Sein Husten hatte begonnen, ihn zu beunruhigen, kalte, graue Schleimklumpen, er zwang sich, sie genauer anzusehen, sie auf Spuren von Blut zu untersuchen. Sobald er auch nur die kleinste Spur finden würde, würde er aufhören zu rauchen, nicht sofort, aber dann. Das wusste er.
Er fror. Er hatte in seinen Kleidern gelegen und geschlafen, sein Körper schmerzte und fühlte sich völlig zerschlagen an, wie nach einer intensiven Trainingseinheit, ja, wie Muskelkater sowohl in den Oberschenkeln als auch in den Waden. Dann ging er ins Bad und duschte, putzte sich die Zähne. Rasierte sich sorgfältig und ausdauernd, zog Manchesterhosen und ein frisches Hemd an.
Wie spät mochte es sein? Noch nicht Mitternacht. Er suchte eine Weile nach dem Autoschlüssel und fand ihn schließlich in einer der Schreibtischschubladen im Arbeitszimmer. Früher war es das Spielzimmer der Jungen mit Autorennstrecken und Legotürmen gewesen. Er verspürte eine starke Sehnsucht nach Jill. Aber sie hatte Nachtschicht und würde auch am darauffolgenden Abend arbeiten müssen.
Er nahm seine Jacke und ging hinaus zum Auto. Es war ein Saab, den er schon seit vielen Jahren besaß, und wenn er es sich nur hätte leisten können, hätte er schon vor langer Zeit einen neuen gekauft. Nach einigen Versuchen startete der Motor. Er parkte rückwärts aus der Garage aus und fuhr los.
DER PUTZWAGEN ERSCHIEN ihr an diesem Morgen klobig und extrem schwierig zu manövrieren, so, als wären die Räder blockiert. Hans Peter hatte ihr geholfen, ihn aus dem Abstellraum zu holen und mit Handtüchern, Bettwäsche, Seife, Toilettenpapier und den kleinen flachen Plastikverpackungen mit Shampoo zu beladen. Dann hatten Justine und er sich auf den Weg gemacht. Ariadne stand im Frühstücksraum und sah sie die Drottninggata hinauf verschwinden. Es ging ein auffrischender Wind. Justines Haar wehte in alle Richtungen. Sie trug den Vogel wie ein Kind im Arm, genauso, wie Ulfs Mutter ihre frisch gebackenen Brote trug.
»Du findest das hier vielleicht unangenehm«, sagte Justine zu Ariadne, als sie mit dem Vogel herauskam. »Ich weiß nicht, was du von Tieren hältst. Aber eins ist sicher, du brauchst keine Angst zu haben. Er weiß, welche Menschen mir sympathisch sind.«
Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
Justine strich sich die Haare aus dem Gesicht und zeigte in Richtung des kleinen Raumes hinter dem Portiertresen.
»Leider hat er ein bisschen Dreck gemacht«, sagte sie und lächelte verlegen. Sie war so süß, wenn sie lächelte, sah viel jünger aus.
»Ich kümmere mich drum.«
»Das fehlte gerade noch, ich hab es schon weggewischt. Ich glaube nicht, dass man es noch sieht.«
Es war ein großer Vogel mit grauen und schwarzen Federn. Er blinzelte sie an, und sie fragte sich, was er wohl dachte. Konnte ein Vogel überhaupt denken?
»Wie heißt er?«, fragte sie leise.
Justine zuckte mit den Achseln.
»Äh … er hat nie einen Namen bekommen, es hat sich einfach nicht ergeben. Manchmal wünschte ich mir schon, dass er einen Namen hätte. Aber eigentlich kommen wir auch ohne zurecht. Außerdem ist mir nie einer eingefallen, der zu ihm passen würde. Und ich finde, man läuft Gefahr, ihm seine … wie soll ich sagen, Würde zu nehmen, wenn man ihn nun Efraim oder Putte oder so ähnlich nennen
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