Der Schatten im Wasser
würde.« Sie lachte. Der Vogel gab ein leises Krächzen von sich.
Sie standen in der Tür, bereit zu gehen. Hans Peter legte seinen Arm um Justine. Justine sah Ariadne direkt in die Augen. Sie schien wie von innen heraus zu leuchten. Sie reichte ihr ein Kärtchen mit ihrer Telefonnummer.
»Keiner muss das aushalten, was er mit dir macht. So etwas kann man niemals verzeihen. Du kennst ja unsere Adresse, und du kannst uns anrufen, wann immer du willst. Ich möchte, dass du das weißt.«
Ariadne errötete.
»Es wird sich schon regeln«, entgegnete sie leise.
Sobald sie gegangen waren, begann sie, die Nummer auswendig zu lernen. Sie hatte einen besonderen Rhythmus und war mit ihren vielen Achten leicht zu merken. Die Ziffern setzten sich in ihrem Hirn fest, nisteten sich sozusagen ein. Sie würde sie nicht vergessen. Sie riss das Kärtchen in viele kleine Schnipsel und warf sie in den Müllsack.
Sie befand sich in einem der Zimmer und zog das Laken von dem breiten Doppelbett ab. Eingetrocknete Spermaflecken, die sie plötzlich anekelten, so hatte sie nie zuvor reagiert. Ein Liebespaar? Oder auch nicht. Spermaflecken brauchten ja nicht notwendigerweise auf Liebe hinzudeuten.
Das Radio lief fast immer, weil sie es aus Gewohnheit anstellte und weil die Zeit mit Musik schneller verging. Doch an diesem Tag wollte sie eigentlich nicht, dass die Zeit schneller verging.
Wir holen dich dann ab. Geh einfach den Observatoriekulle hinauf.
Er würde jetzt wieder eine Weile nett zu ihr sein, sanft und nahezu übertrieben freundlich. Sie wusste nie, ob er spielte oder nicht. Diese Freundlichkeit konnte eine Woche oder auch mehrere Monate lang anhalten. Darin bestand ja gerade das Unberechenbare, dass man es nie genau wusste. Natürlich gab es Anzeichen dafür, wenn die Freundlichkeit nachzulassen begann. Zum Beispiel seine Art, die Unterlippe vorzuschieben, sodass sie fest und dunkelrot wurde. Außerdem begann er an ihrem Aussehen herumzumäkeln, an Dingen, die sie tat, oder eben unterließ. Er erinnerte sich an alle Liebenswürdigkeiten, die er in der letzten Zeit von sich gegeben hatte, und wollte sie zurücknehmen, da sie ihrer nicht wert war, wie hatte er sich das nur jemals einbilden können.
Ja. Genau so war es. Im Moment gönnte er ihr eine Phase der Erholung, aber nur, damit sie wieder stark genug wurde, um von neuem seinem Zorn ausgeliefert zu sein. Sie betrachtete ihre Hände. Der kleine Finger ihrer linken Hand war geschwollen, sie musste ihn sich verstaucht haben. Die Augenlider fühlten sich wie Schmirgelpapier an. Normalerweise duschte sie und wusch sich ihr Haar, wenn sie von der Arbeit kam, doch gestern war es nicht so gewesen. Sie fühlte sich dreckig und hässlich, für gewöhnlich zeigte sie sich keinem so, keinem anderen als ihm, und das ließ seine Verachtung nur noch wachsen.
Sie machte einen Putzlappen feucht und streute Scheuerpulver in die Toilette. Es war unübersehbar, dass die Gäste sie benutzt hatten. Im Radio lief eine Quizsendung mit Musikuntermalung. Die Hörer konnten anrufen und CDs gewinnen. Es kam manchmal vor, dass Ariadne eine der Fragen beantworten konnte. Nicht oft, aber es kam vor. Dann freute sie sich fast wie ein Kind und wollte loslaufen und es allen erzählen, doch leider war sie überwiegend allein im Hotel, wenn sie putzte.
Gerade kam wieder so eine Frage, und obwohl sich ihr ganzer Kopf wie eine breiige Masse anfühlte, wusste sie die Antwort sofort.
»Wie heißt die größte Insel der griechischen Inselgruppe Dodekanes?«
»Rhodos«, murmelte sie.
Die Frau im Radio zögerte.
»Wie sagten Sie noch, hieß die Inselgruppe, Dodde …?«
Der Moderator wiederholte geduldig:
»Dodekanes.«
»Inseln, hm … es gibt so viele Inseln, dass man gar nicht weiß, welche man zuerst nennen soll.«
»Das stimmt, Inseln gibt es mehr als genug. Ich kann Ihnen vielleicht etwas auf die Sprünge helfen. Diese Inselgruppe wird auch Zwölfinseln genannt.«
»Aha.«
»Und, fällt noch kein Groschen? Trotzdem müssen wir Sie leider so langsam um eine Antwort bitten.«
»Kreta«, kam es schließlich, fast böse, als wüsste die Frau bereits, dass es nicht stimmte, und wollte nun den Moderator dafür verantwortlich machen.
Die Musik, die sie sich gewünscht hatte, war von Cornelius Vreeswijk zusammen mit einer Gruppe trällernder und lachender Kinder. Ariadne ging durch das Zimmer und sammelte Korken, Schokoladenpapier und Reste von Weintrauben sowie Bananenschalen ein. Überall lag
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