Der Schatten im Wasser
Hunger.«
Sie stellte Becher auf den Tisch, zwei große mit Blumenmuster, die sie von Berit geschenkt bekommen hatte.
»Tut mir leid, dass ich dich heute Nacht angerufen und gestört habe«, entschuldigte er sich mit leiser Stimme.
»Du hast nicht gestört.«
»Doch, natürlich hab ich das. Aber ich hab mich so schlecht gefühlt.«
»Ist es jetzt besser?«
»ja. Ich bin eine Weile mit dem Auto herumgefahren. Doch. Es geht schon besser.«
Er schaute sie an und lächelte.
Vom See her konnte man das Geräusch eines Schiffsmotors hören. Jill wusste, um welches Schiff es sich handelte, die Baltic Viking hatte flüssiges Ammoniak geladen und war von Polen aus auf dem Weg nach Köping. Sie kam planmäßig um diese Zeit vorbei. Die Baltic Viking war ein großes orangefarbenes Schiff mit Heimathafen Oslo. Einmal war Jill mit an Bord gewesen, zusammen mit Billy, dem Lotsen. Fast die gesamte Besatzung bestand aus Philippinen. Billy hatte mit ihnen gescherzt und dabei eine Geste in ihre Richtung gemacht und »second wife« gerufen. Alle hatten vielsagend gelacht. Denn manche ausländischen Seeleute, die Frau und Kinder in ihrem Heimatland hatten, besaßen außerdem noch eine zweite Frau in Schweden.
Der Tee war fertig. Sie goss ihnen beiden ein und stellte Honig, Butter und einen Teller mit Zwieback auf den Tisch. Tor saß da, mit den Händen um den wärmenden Becher. Seine mageren, knochigen Hände, die fleckig vom Nikotin waren und an deren Fingern die Nagelhaut eingerissen war.
»Du träumst anscheinend oft von … ihr?«, fragte Jill vorsichtig. »Genauso, wie in der Nacht, als wir in diesem blauen Hotel waren.«
»Inzwischen nicht mehr so oft. Früher, als sie gerade erst verschwunden war, da hab ich von ihr geträumt, sobald es mir gelang einzuschlafen. Aber jetzt kaum noch. Doch das Schlimmste ist, dass es mir allmählich schwerfällt, mir ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen.«
»Sechs Jahre sind eine lange Zeit.«
»Sechs Jahre und sieben Monate.«
»Ja.«
»Ich bin heute Nacht mehrere Stunden lang mit dem Auto herumgefahren, ich weiß auch nicht, warum. Es kam einfach so. Unter anderem bin ich in Hässelby villastad gewesen.«
»Tatsächlich?«, fragte sie unsicher.
»Vieles da draußen hat sich verändert. Bist du in der letzten Zeit mal dort gewesen? Sie haben die U-Bahnstation umgebaut und …«
»Nein, ich bin schon lange nicht mehr dort gewesen.«
»Das Haus meiner Schwiegereltern ist übrigens abgerissen worden, wusstest du das? Und all die Gewächshäuser, die ihm gehörten, also Berits Vater. Sein ganzes Lebenswerk ist dem Erdboden gleichgemacht worden. Stattdessen stehen dort jetzt Reihenhäuser.«
Sein ganzes Lebenswerk, dachte sie. Alles, was ihm wichtig war, inklusive seiner Tochter. Sie erinnerte sich daran, wie sie zwischen den nach Erde duftenden Beeten gespielt hatten, der feuchtkalte Geruch nach Tonscherben und Humus. Die Kellerasseln, die sich unter den Steinplatten tummelten. Einmal war Berit ausgerutscht und gegen eine Glasscheibe geprallt, sodass diese zerbrach. Sie zog sich dabei eine Schnittwunde am Ellenbogen zu und musste ins Krankenhaus gefahren und genäht werden. Ihr Vater war böse geworden: »Ich hab euch doch gesagt, dass ihr hier drinnen nicht spielen sollt!« Doch es half nichts, es war einfach zu verlockend, sich in diese Welt voller gut riechender, hochgebundener Pflanzen hineinzuschleichen. Manchmal erntete Berit eine Gurke oder ein paar Tomaten. Ihr Geschmack war intensiv und außergewöhnlich, so schmeckte das Gemüse heutzutage nicht mehr. Heute wurde nur noch unreifes Gemüse aus Holland importiert, ohne jegliches Aroma.
Es hatten auch einige Weinstöcke dort gestanden, alte und verknöcherte. Jeden Herbst um diese Zeit herum brachen sie fast unter der süßen Last der Trauben zusammen. Sie durfte immer welche mit nach Hause nehmen, aber sie mussten innerhalb von ein paar Tagen gegessen werden, da sie sonst von kleinen schwarzen Fliegen bevölkert wurden, die sich im ganzen Haus ausbreiteten und in den Topfpflanzen ihrer Mutter vermehrten.
»Kümmerst du dich um ihr Grab?«, entfuhr es ihr. »Das deiner Schwiegereltern, meine ich. Denn Berit hat ja keine Geschwister oder sonstige Verwandten.«
»Das übernimmt die Friedhofsverwaltung. Man bezahlt eine gewisse Summe, und dann kümmern sie sich drum.«
Jill kroch ins Bett und schlang die Decke im Sitzen um sich. Sie war nach der Nachtschicht immer etwas verfroren. Tor trank von seinem Tee und betrachtete
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