Der Schatten im Wasser
sie.
»Bist du müde?«
»Nicht besonders. Ich habe mich gerade wieder ein wenig berappelt.«
»Weißt du, was passiert ist? Ich bin dort im Villenviertel umhergefahren und schließlich unten bei Justine Dalviks Haus gelandet. Es war, als ob das Auto von selbst dorthin steuerte.«
In ihr zog sich etwas zusammen.
»Aha.«
»Es war ja mitten in der Nacht, wo jeder Normalsterbliche schläft. Sie allerdings nicht. Bei ihr brannte im ganzen Haus Licht. Ich hab sie gesehen, sie stand in der Küche und schien vor irgendetwas höllische Angst zu haben. Und auf einmal riss sie die Haustür auf und schrie jemandem zu, dass er oder sie verschwinden und sie in Ruhe lassen solle. Ehrlich gesagt, das war ziemlich unheimlich.«
»Hat sie dich angeschrien? Also hat sie dich gesehen?«
»Nein. Da bin ich mir sicher. Allerdings konnte ich im Garten weder jemanden anderen sehen noch hören. Ziemlich merkwürdig, sie scheint irgendwie nicht ganz dicht zu sein.«
Jill zog sich die Decke über die Brust.
»Ich frage mich, wie viel wir dazu beigetragen haben«, flüsterte sie. »Inwieweit es unsere Schuld war. Als wir jung waren. Ich habe schon so oft daran gedacht. Man war irgendwie so gefühlskalt. Wir haben sie so manches Mal richtig fies behandelt. Aber sie … sie fing ja nicht mal an zu weinen, man bekam fast den Eindruck, dass sie es okay fand. In gewisser Weise. Und all die Süßigkeiten, die sie anschleppte. Sandypastillen bis zum Abwinken. Du weißt ja, ihr Vater …«
»Ich weiß.«
»Ich erinnere mich daran, dass der Schulzahnarzt irgendwann Alarm schlug, weil der Kariesbefall in unserer Klasse innerhalb von wenigen Schuljahren extrem gestiegen war, und dass dieses Weib von Klassenlehrerin, die wir hatten, uns eine lange Strafpredigt hielt. Ich glaube, dass sie Justine auch nicht mochte. Sie zwang sie jedenfalls oft, nach Schulschluss nachzusitzen, aber ich habe keine Ahnung, was sie mit ihr gemacht hat.«
»Aha.«
»Na ja, und wir erst. Ihre Klassenkameraden. Einmal, als wir oben auf dem Berg waren, oh, mein Gott, ich mag gar nicht daran denken. Sie brach sich das Bein und kam ziemlich lange nicht in die Schule. Aber nicht, dass sie gepetzt, es ihren Eltern irgendwie gesagt hätte oder so. Wie es geschehen war, meine ich. Nein, petzen tat sie nie. Und außerdem war es ja nicht ihre leibliche Mutter. Ich glaube, ihr Vater hat wieder geheiratet, seine Sekretärin. Flora hieß sie, ihr Name klang wie eine bunte Sommerwiese. Uns kam sie jedenfalls wie eine Königin vor, sie hatte überhaupt nichts mit unseren bodenständigen, rotbackigen und kitteltragenden Müttern gemeinsam, sie spazierte in eleganten Kleidern durch den Ort und trug Nagellack und Lippenstift.«
Tor hob die Hand und wies auf ein vergrößertes Foto von ihr und Berit, das an der Wand hing.
»Das da kenne ich gar nicht«, sagte er.
»Ich habe es irgendwann einmal von Berit bekommen. Es wurde aufgenommen, als wir gerade in die dritte Klasse kamen.«
Er stellte seinen Becher auf den Tisch und kam zum Bett. Setzte sich dicht neben sie.
»Da sehen wir noch so unschuldig aus!«, rief sie. »Schau, was für süße, reizende kleine Mädchen. Aber der Schein trügt. Glaubst du, dass alle Kinder so grausam sind? Ich habe viel darüber nachgegrübelt. Fehlt Kindern möglicherweise die Fähigkeit, Empathie zu empfinden? Nein. Das glaube ich eigentlich nicht. Kinder fühlen ja zum Beispiel auch mit, wenn Tieren etwas passiert. Aber Gleichaltrigen gegenüber? Oder waren nur wir so gefühlskalt, Berit und ich und ein Mädchen namens Gerd? Und einige andere, im Grunde waren wir ganz schön viele. Weißt du, ich glaube nicht, dass Justine auch nur eine einzige Freundin hatte. Sie klammerte sich die ganze Zeit an uns, hatte sozusagen keinen Stolz. Immer war sie allein. Ihre leibliche Mutter war wohl direkt vor ihren Augen zu Hause gestorben. Als sie gerade mal vier Jahre alt war. Man könnte meinen, dass dieses Trauma doch wirklich gereicht hätte. Mussten wir ihr unbedingt noch diese Last aufbürden und sie dermaßen quälen?«
Er legte vorsichtig den Arm um sie.
»Ich glaube, dass so etwas über alle Generationen hinweg und überall in der Welt vorkommt«, beschwichtigte er sie. »In meiner Schule war es genauso. Oder, besser gesagt, in meinen, denn manchmal musste ich oben bei Oma und Opa zur Schule gehen.«
»Oh! Und wie war das?«
»Eigentlich hätte ich gehänselt werden müssen, weil ich nicht wie die anderen redete. Ich sprach nämlich Stockholmer
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