Der Schatten im Wasser
wusste aber nicht so recht, wie er weiterfragen sollte. Er zuckte mit den Achseln, tätschelte vorsichtig ihren Fuß und setzte ihn zurück auf den Boden.
»Dass du keine Freundin hast, Micke«, wunderte sie sich mit schleppender Stimme und griff nach der Zigarettenpackung. »Ich meine, wenn ich deine Fragen beantworte, so kannst du es doch wohl auch. Du nimmst es mir doch nicht übel, oder?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete er mürrisch.
»Das habe ich mich schon so manches Mal gefragt. Wie Mütter das eben tun. Katrin hat auch schon gefragt. Du siehst doch gut aus, Micke. Genau wie er. Du bist gut gebaut, muskulös, und so weiter. Genau so, wie die Mädels es mögen.«
Er spürte, wie sich die Röte von seinem Hals aus in alle Richtungen ausbreitete und schließlich wie Feuer an den Ohrläppchen brannte.
»Katrin hat einmal geradeheraus gefragt, glaubst du, dass er anders gepolt ist? Nein, hab ich gesagt. Micke nicht. Er ist nicht so einer.«
Eigentlich müsste er jetzt sauer sein. Richtiggehend stinksauer. Und noch dazu mit Recht. Aber das wäre taktisch unklug. Denn er bezweckte ja letztlich, dass sie mehr von Nathan erzählte. Ihm ein paar Tipps geben würde, ohne es selbst zu merken.
»Nun hör aber auf«, entgegnete er.
»Verzeih mir, wenn ich frage, aber hast du … hast du denn schon mal mit einem Mädchen geschlafen? Das hast du doch, oder?«
»Mehrmals, wieso?«
»Nein, ich wollte es nur wissen. Man macht sich ja so seine Gedanken. Nicht, dass ich dich deswegen rausgeschmissen hätte, ich meine, wenn du nach Hause gekommen wärest und mir erzählt hättest, dass du schwul bist. Jonas Gardell ist auch schwul. Und er hat es im Leben immerhin weit gebracht. Ganz zu schweigen von seiner Frau, oder wie man nun sagen soll. Mark Levengood. Der Tuntige.«
»Ich bin nicht schwul.«
»Sicher?«
»Verdammt, Mama.«
»Na ja, ich hätte ja nichts … Aber Nathan. Er hätte schon ein wenig die Augenbrauen hochgezogen.«
»Wie bitte?«
»Sein erstgeborener Sohn.« Sie lachte schrill.
»Ja, und?«
»Er hatte große Pläne mit dir, verstehst du. Wenn ein Mann nur einen einzigen Sohn, aber fünf Töchter bekommt. Dann ist doch klar, dass er große Pläne hat.«
Ihn erfasste ein Gefühl von Stolz.
»Hat … hat er sich gefreut, als ich geboren wurde?«
»Ja, sicher. Natürlich hat er sich gefreut. Vier Töchter nacheinander, und dann kam plötzlich ein Kleiner mit einem Zipfel. Und du warst ihm auch noch so ähnlich. Du hättest ihn auf alten Fotos sehen sollen, auf denen er so drei, vier Jahre alt war. Du warst seine leibhaftige Kopie.«
»War ich das?«
»Mm.«
»Und wo sind die Bilder jetzt?«
»Keine Ahnung. Er hat all diese Dinge mitgenommen, als er mit Barbro zusammenzog. Alle privaten Erinnerungen sozusagen.«
»Aber … warum ist er ausgezogen? Hat er sich etwa in die andere verliebt, während ihr …?«
Sie stand auf und machte ein paar wackelige Tanzschritte.
»Das Leben ist eben nicht immer so leicht«, lallte sie. »Dein Vater, er war ein … Er hatte viel Gutes an sich, das hatte er. Aber er war unzuverlässig und eine unruhige Seele. In gewisser Hinsicht war er wie geschaffen für ein Leben als Globetrotter, sowohl physisch als auch … wie heißt es noch, psychisch.«
TOR WARTETE UM VIERTEL NACH SECHS Uhr morgens vor ihrer Tür, als sie nach Hause geradelt kam. Ein ganzer Haufen Kippen lag neben der Hauswand. Jill stieg vom Fahrrad und starrte ihn überrascht an. Er lachte verlegen. Dann kam er heraus ins Licht, ergriff den Lenker und bewegte ihn hin und her, sodass sie gezwungen war, ihn loszulassen.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich werde auch gleich wieder verschwinden, ich bin nur gerade vorbeigekommen, und dann bin ich ausgestiegen, um mir die Beine zu vertreten.«
»Wie bitte? Ich habe versucht, dich zu erreichen. Bist du auf dem Sprung irgendwohin?«
»Tja … komm mit rein!«, rief sie und nahm ihm das Fahrrad wieder ab. Schob es unter das Hausdach und schloss es ab.
»Jill, du hast die ganze Nacht gearbeitet, du musst schlafen.«
»Red nicht rum. Komm jetzt.«
»Aber nur kurz.«
Sie hatte weder das Bett gemacht, noch aufgeräumt. Ihre Reisetasche stand nach wie vor geöffnet mitten im Raum.
»Ich mache mir einen Tee, möchtest du auch welchen?«
»Ja, gern.«
Sie setzte Wasser auf und griff nach der Dose mit Johannisbeertee.
»Ich kann dir allerdings nichts Richtiges zu essen anbieten, denn ich habe eigentlich nie etwas im Haus.«
»Ich habe keinen
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