Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
Vom Netzwerk:
ließ sie ihre Fähigkeit, den Abstand einzuschätzen, im Stich. Am nächsten Morgen konnte sich das Auge längst an einer anderen Stelle befinden. Grünlich unter Steinen hervorstarren, ihr traurig und leer zublinzeln. Sie schluchzte auf und verspürte beim Schlucken einen Schmerz in der Brustgegend. Ein Schwarm Vögel näherte sich laut schreiend dem Boot, ließ sie zusammenfahren und sich auf den Boden kauern.
     
    Hans Peter war aufgewacht. Er hatte heute frei. Er kam in seinem Morgenrock die Treppe hinunter. Erblickte ihre durchnässten Kleider. War kurz davor, wütend zu werden und sie anzufahren.
    »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn.
    »Ich habe dich gebeten, das Ruderboot nicht mehr zu benutzen.«
    »Es ist nicht gefährlich«, erwiderte sie knapp.
    »Ich sehe das aber anders.«
    »Hans Peter, ich bin hier am Wasser aufgewachsen, es ist sozusagen ein Teil von mir.«
    »Aber ich habe Angst, verstehst du das denn nicht? Dein Verhalten macht mir Angst.«
    Darauf gab es keine Antwort.
    In dem Moment kam der Vogel in den Flur geflogen und landete auf der Hutablage, machte ein paar hüpfende Schritte. Er musste sich jetzt wieder drinnen aufhalten. Sie hatten festgestellt, dass er inzwischen das sichere Wohnhaus vorzog. Er zog die eine Kralle hoch und begann, sein Gefieder zu putzen, pickte in kurzen Abständen.
    Justine zog sich aus.
    »Ich liebe dich«, sagte sie. »Verzeih mir, wenn ich nicht so bin, wie du gehofft hattest.«
    »Ich liebe dich auch«, antwortete er und schaute sie an, doch in seinem Blick lag eine gewisse Distanziertheit.
    »Hans Peter?«, rief sie flehend.
    Er verzog das Gesicht.
    »Ich bin nur noch ein bisschen müde. Das geht schon vorbei.«

SPÄTER AM TAG besuchten sie Hans Peters Eltern. Seine Mutter Birgit hatte gerade ihren zweiten Herzinfarkt überstanden und war nicht mehr besonders belastbar. Sie waren beide alt, näherten sich der achtzig, wohnten aber nach wie vor in ihrem Haus in Stuvsta. Die Mutter hatte sich in der ersten Zeit relativ kurz angebunden und reserviert gegenüber Justine verhalten, was sich inzwischen etwas gebessert hatte, aber eine herzliche Beziehung würde zwischen ihnen dennoch nie entstehen. Und doch hatte Birgit sich nach dem zweiten Herzinfarkt in gewisser Hinsicht verändert. Sie hörte besser zu und war nicht mehr so kritisch.
    Nach Hans Peters Scheidung hatte es oft Auseinandersetzungen zwischen ihr und seinen neuen Frauenbekanntschaften, die er seinen Eltern vorgestellt hatte, gegeben. Denn Birgit Bergman war eine autoritäre Dame mit Prinzipien. Sie hatte Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass seine Exfrau und er sich entschlossen hatten, getrennte Wege zu gehen. Es half auch nichts, ihr zu erklären, dass es sich um einen gemeinsamen und gut überlegten Entschluss handelte.
    »Ihr habt euch keine Chance gegeben«, lautete ihr Kommentar. »Aber das ist wichtig in einer Ehe, verstehst du? Was glaubst du, wie man sonst eine Familie am Laufen halten kann?«
    Er hatte schon immer Probleme gehabt, sich ihr zu widersetzen, Probleme, sich abzugrenzen. Als seine Schwester Margareta umkam, zog er zu seinen Eltern nach Hause zurück und war ihnen mehrere fahre lang eine große Stütze. Dafür hatte er sein Theologie- und Psychologiestudium abgebrochen, er wollte ja eigentlich Pastor werden. Er hatte Justine geschildert, wie kräftezehrend alles gewesen war, die Trauer und Sprachlosigkeit seiner Eltern. Bis es ihm schließlich reichte und er genug hatte von all der Seelsorge. Noch lange Zeit nach dem Unfall blieb das Zimmer seiner Schwester unberührt, bis er eines Tages beschloss, es auszuräumen und als Esszimmer herzurichten. Das war sein erster Versuch einer Revolte, und er hatte offensichtlich funktioniert.
     
    Jetzt saßen sie in genau diesem Esszimmer. Das Haus war inzwischen behindertengerecht eingerichtet, Stufen waren entfernt und die Toilette erhöht worden. Birgit hatte abgenommen, ihre Haut war gelblich und wächsern. Justine beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Der Tod nähert sich etappenweise, schoss es ihr durch den Kopf, er hinterlässt seine Spuren und zieht sich dann wieder ein wenig zurück, denn noch ist es nicht so weit, ich nehme dir nur einen Teil deines Bewegungsvermögens, deiner Hörfähigkeit, des Gedächtnisses und der Kraft deines Herzschlags. Das Bild von Flora nahm Gestalt an, die Stiefmutter als Pflegefall in einem Mehrbettzimmer in Råcksta, wie die Schwestern versucht hatten, sie aufzurichten und zu füttern. Die Suppe, die ihre

Weitere Kostenlose Bücher