Der Schatten von Thot
trachtete, Thots geheimes Wissen in ihren Besitz zu bringen.«
»Ich kenne die Geschichte«, versicherte Sarah. »Meheret missbrauchte Tezuds Vertrauen und hinterging ihn, daraufhin wurde sie zum Tod verurteilt. Angeblich wurden ihr bei lebendigem Leib die Organe entnommen, ihr Körper wurde verbrannt.«
»Das stimmt«, bestätigte Laydon, »aber die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende. Denn wie es heißt, kam Tezud über den Verrat seiner Geliebten nie hinweg. Um das Andenken an ihre Schönheit zu ehren, ließ er ihre Organe einbalsamieren und in vier Kanopen geben, die den Gottheiten Thot, Anubis, Suchos und Apophis geweiht waren. Und diese Kanopen machte er zum Schlüssel von Thots Geheimnis.«
»Die Ewige Pforte«, flüsterte Sarah in Erinnerung an das, was Kamal ihr berichtet hatte. Schlagartig wurde ihr klar, dass damit jenes steinerne Tor gemeint war. Und plötzlich wusste sie auch, wofür die vier Nischen darin vorgesehen waren.
»Ganz recht«, stimmte Laydon zu, der Sarahs Blick zur Pforte richtig deutete. »Die Kanopen sind der Schlüssel, um das Tor zu öffnen, das seit dreitausend Jahren verschlossen ist.«
»Und es befinden sich die sterblichen Überreste Meherets darin?«, fragte Sarah ungläubig. Die Gefäße waren nach alten Mustern gefertigt, aber ohne Zweifel jüngeren Ursprungs.
»Bedauerlicherweise«, räumte Laydon ein, »mussten wir an dieser Stelle improvisieren, denn die Kanopen Meherets gingen verloren, und niemand weiß, wo sie geblieben sind. Aber sicher kannst du dir inzwischen denken, wessen Innereien sich in diesen Behältern befinden – die Leber, die Lunge, der Magen und die Organe des Unterleibs…«
»Allerdings«, erwiderte Sarah, der in diesem Moment die ganze Abscheulichkeit von Laydons Plänen aufging. Und sie verstand jetzt auch, weshalb der alte Ammon aufgehorcht hatte, als sie ihm von den Morden in London und den Organdiebstählen berichtete. Der Weise von Mokattam hatte die schreckliche Wahrheit wohl bereits geahnt…
»Es sind die Organe, die den Mordopfern von Whitechapel entnommen wurden, nicht wahr?«, vermutete sie.
»In der Tat. Und spätestens jetzt wirst du auch verstehen, weshalb wir diese Arbeit nicht einem hergelaufenen Schlachtburschen überlassen konnten. Es war wichtig, dass die Organe unversehrt blieben, sodass die filigrane Kunst eines Chirurgen gefragt war.«
»Warum dann vier Mordopfer?«, fragte Sarah. »Hätte nicht auch ein einziges genügt?«
»Zum einen, um auch dem Rest des Plans zu genügen, den ich dir vorhin auseinandergesetzt habe«, antwortete Laydon. »Zum anderen aus mathematischen Gründen.«
»Was soll das heißen?«
»Sehr einfach – da weder schriftliche noch bildliche Aufzeichnungen über Meheret existieren, wissen wir nicht, was für eine Frau sie gewesen ist. War sie von großer Statur oder eher klein? War sie von schlankem Wuchs oder stark? Schließlich war sie eine Kriegerin…«
»Worauf willst du hinaus?«, drängte Sarah.
»Ich will damit sagen, dass die Kanopen, die du vor dir siehst, eine Art Durchschnittswert darstellen. Vier unversehrte Organe, entnommen aus den Körpern von vier verschiedenen Frauen. Ihre Beschaffenheit sowie der rechnerische Querschnitt ihres Gewichts sollte unseren Ersatzschlüssel halbwegs funktionsfähig machen.«
»Ich verstehe«, sagte Sarah nur. Ihr Onkel schien tatsächlich an alles gedacht zu haben – oder?
»Täuscht euch nicht«, rief Kamal verzweifelt. »Thot lässt sich nicht betrügen, und seine Rache an dem, der die Kammer widerrechtlich betritt, wird fürchterlich sein!«
»Mir kommen die Tränen«, versicherte Laydon unbeeindruckt und wandte sich wieder an Sarah. »Worauf wartest du? Öffne, was seit Jahrtausenden verschlossen ist – oder dein edler Wüstenprinz wird sterben.«
Sarah ertappte sich dabei, dass erneut ihre Neugier erwachte. Obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte, mit dem Feind zu kollaborieren, wurde das Verlangen, zu erfahren, was sich jenseits der steinernen Pforte befand, immer stärker. Bislang hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, aber nun fühlte sie, dass sie dicht vor dem Ziel war.
»Sarah, nein!«, stöhnte der Tuareg, als sie sich bückte und die erste Kanope aus dem Kasten nahm, jene, die den schlangenköpfigen Dämon Apophis darstellte.
Sarah sandte Kamal einen Blick zu, der bedauernd war und ihm zugleich Trost spenden sollte. Dann stellte sie die Kanope in die linke Nische. Sie war noch nicht zurückgetreten, als ein
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