Der Schatten von Thot
Gesicht wischend.
Laydon antwortete nicht, stattdessen befahl er einigen seiner Schergen, den benommen am Boden liegenden Kamal zu ergreifen und auf die Beine zu zerren. Ein weiterer Vermummter stopfte ihm kurzerhand den Lauf seiner Schrotflinte in den Mund.
»Willst du zusehen, wie dein Freund sich vor deinen Augen auflöst?«, fragte Laydon spöttisch. »Nur ein Wink von mir, und sein Gehirn verunstaltet die Wände. Also überlege dir gut, was du tust…«
Sarahs Atem ging stoßweise. Vor hilfloser Wut war sie kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Kamal so zu sehen, tat ihr in der Seele weh. Sie hatte du Gard verloren und ihren Vater – einen weiteren Verlust würde sie nicht ertragen…
»Es ist gut«, rief sie laut. »Sie sollen ihn loslassen.«
»Wirst du kooperieren?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Wahrscheinlich nicht.« Laydon schüttelte den Kopf und bedeutete seinem Handlanger, die Flinte wegzunehmen. Mit einem brutalen Schlag beförderten die Vermummten den Tuareg zurück auf den Boden. Sarah eilte zu ihm, wischte das Blut aus seinem Gesicht.
»Sarah«, hauchte er.
»Ja?«
»Tu es nicht. Du darfst ihnen nicht dabei helfen, hörst du? Du darfst es nicht tun…«
»Sei unbesorgt«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Stirn. Dann erhob sie sich und wandte sich Laydon zu. »Was soll ich tun?«
»Geduld«, erwiderte ihr Onkel mit überlegenem Grinsen. Erneut nickte er einem seiner Schergen zu, der daraufhin durch den schmalen Eingang verschwand. Als er zurückkehrte, trieb er Jeffrey Hull vor sich her.
Das verletzte Bein des königlichen Beraters war verbunden worden, aber der Verband war mit Blut durchtränkt. Entsprechend humpelnd und unsicher war Sir Jeffreys Gang; sein Gesicht war eine aschfahle Maske, sein Blick fiebrig und starr. In den Händen trug er einen hölzernen Kasten, der ringsum mit ägyptischen Symbolen versehen war. Auf dem aufklappbaren Deckel prangte das Symbol des Ibisses.
»Eine Kanopentruhe«, stellte Sarah verwundert fest.
»Genauso ist es.« Laydon nickte. Mit vorgehaltener Waffe wurde Sir Jeffrey gezwungen, den Kasten bis zur verschlossenen Pforte zu tragen und davor abzustellen. Der Blick, den der königliche Berater dabei Mortimer Laydon zuwarf, war vernichtend.
»Mein alter Freund«, spottete dieser, »sollte Ihnen die Rolle nicht behagen, die ich Ihnen in diesem Spiel zugedacht habe? Dabei erschien sie mir durchaus passend. Ihr ganzes Leben lang haben sie für andere den Diener gemacht, zunächst für das Militär, dann für den Temple Bar und schließlich für den königlichen Hof.«
»Was ich getan habe«, entgegnete Sir Jeffrey keuchend und unter Schmerzen, »habe ich aus Loyalität und Liebe zu meinem Vaterland getan. Sie hingegen sind nichts als ein heimatloser Verräter, Laydon – und das nach allem, was wir in Indien zusammen durchgemacht haben.«
»Mein lieber Jeffrey – ich tue all das gerade wegen alldem, was wir in Indien durchgemacht haben. Das Empire hat Risse bekommen. Können oder wollen Sie das nicht sehen? Es ist an der Zeit, dass eine starke Macht zu Ende führt, wozu Königshaus und Regierung nicht willens oder nicht in der Lage sind.«
»Verräter«, sagte Jeffrey Hull noch einmal.
Laydon lachte nur.
Sarah hatte inzwischen ihre Aufmerksamkeit dem Kanopenkasten zugewandt und ihn geöffnet. Nebeneinander aufgereiht standen vier flaschenartige Gefäße darin, jedes davon etwa acht Inches hoch und aus Ton gearbeitet. Die Kappen der Behältnisse waren ebenfalls aus Ton modelliert und den Häuptern altägyptischer Gottheiten nachempfunden: Suchos, dem reptilienhaften Gott der Fruchtbarkeit; Anubis, dem Totengott mit dem Antlitz eines Schakals; dem Schlangendämon Apophis und schließlich dem ibisköpfigen Thot – genau jene Götter also, die sich dem Kult von Unu zufolge miteinander verbündet und gegen den Sonnengott verschworen hatten. Die tönernen Gefäße selbst waren Kanopen, jene Gefäße, in denen zurzeit der Pharaonen die Eingeweide derer aufbewahrt wurden, die durch den Prozess der Mumifizierung Unsterblichkeit erlangen sollten.
»Was befindet sich in den Kanopen?«, wollte Sarah wissen – und fürchtete sich fast vor der Antwort.
»Nun«, gab Laydon bereitwillig Auskunft, »vielleicht hast du von der Geschichte Tezuds gehört, des Hohepriesters von Thot, der der Begründer dieser Stadt war und in leidenschaftlicher Liebe zu Meheret entbrannte, jener geheimnisvollen Kriegerin aus dem Osten, die danach
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