Der Schatten von Thot
verborgener Mechanismus erwachte und der Behälter mit der Leber eines der Mordopfer knirschend im Inneren der Pforte versank.
»Sehr gut«, lobte Laydon. »Weiter!«
Sarah griff nach dem nächsten Gefäß, das den schakalköpfigen Anubis darstellte und – dessen von Vergänglichkeit und Zerfall geprägtem Wesen gemäß – den Magen eines weiteren Mordopfers enthielt. Unter markigem Knirschen verschwand auch diese Kanope in der Pforte. Als nächstes platzierte Sarah den krokodilsgesichtigen Suchos in der Nische, dem als Gottheit der Fruchtbarkeit die Unterleibsorgane eines der Mordopfer zugeteilt worden waren.
Nachdem auch dieses Behältnis versunken war, stellte Sarah die letzte Kanope in die noch verbliebene Nische. Mit ihrem Ibiskopf aus Ton war sie Thot gewidmet, dem Herrscher des Mondauges, der der Überlieferung nach der Gott der Weisheit und der magischen Begabung gewesen war, die er den Sterblichen einzuhauchen vermochte – die Lunge war daher ihm vorbehalten.
Laydon und seine vermummten Schergen schauten Sarah gebannt zu, wie sie auch das letzte Behältnis in die Nische stellte. Diesmal jedoch geschah nichts. Unbewegt blieb die Kanope stehen, sodass Sarah schon fürchtete – oder vielmehr hoffte –, dass Laydons Ersatzschlüssel seinen Zweck nicht erfüllt hatte. Aber einmal mehr wurde sie enttäuscht, denn plötzlich erhob sich ein Rattern und Knirschen, das noch viel lauter war als zuvor. Und diesmal war es nicht nur die Kanope, die sich senkte, sondern die gesamte steinerne Pforte.
»Nein!«, rief Kamal entsetzt.
Es gab ein leises Zischen, das darauf schließen ließ, dass die Kammer luftdicht versiegelt gewesen war, und geräuschvoll versank der glatt gehauene Steinblock im Boden. Die Vermummten tuschelten aufgeregt miteinander und hantierten nervös mit den Waffen, wohl weil sie nicht wussten, was sie auf der anderen Seite erwartete.
Sarah hingegen blieb ruhig stehen, bis der Block aus massivem Fels so weit im Boden verschwunden war, dass sie mühelos darübersteigen konnte. Kurzerhand griff sie nach einer Fackel und wollte schon in das geheimnisvolle Dunkel eindringen – als sie die Hieroglyphen erblickte, die in die Schwelle eingemeißelt waren. Keine gewöhnlichen Schriftzeichen, sondern erneut die geheimen Zeichen von Tezuds Kult.
»Was heißt das?«, wandte sich Laydon an Sarah.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
»Was meinst du damit?«
»Das heißt, dass ich nicht in der Lage bin, diese Zeichen zu übersetzen«, führte sie aus. »Sie enthalten geheime Symbole, die nur ein Eingeweihter zu entschlüsseln vermag.«
»Tatsächlich?« Laydon rollte gefährlich mit den Augen. »Nun, wer könnte eingeweihter sein als der Anführer eines Tuareg-Stammes, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Geheimnis von Thot zu wahren? Weißt du, was diese Zeichen bedeuten, Kamal?«
Es kam keine Antwort.
»Ob du weißt, was sie bedeuten, will ich von dir wissen.«
»Ich weiß es«, entgegnete Kamal leise. »Aber ich werde es Ihnen nicht verraten, und wenn Sie mich mit glühenden Eisen foltern.«
»Keine schlechte Idee.« Laydon grinste freudlos. »Allerdings weiß ich eine sehr viel bessere und einfachere Methode, um dich zum Sprechen zu bringen.« Und damit zog er einen kurzläufigen Revolver unter seinem Tropenanzug hervor, den er Sarah an die Schläfe presste. »Nun, wie steht es?«
Sarah wagte nicht, sich zu bewegen. Mortimer Laydon hatte ihren Vater getötet, er würde auch vor Gardiner Kincaids Tochter nicht haltmachen. Der fanatische Glanz seiner Augen verriet, dass er derlei Skrupel längst hinter sich gelassen hatte…
Kamal zögerte.
Einen Augenblick lang schien er schweigen und lieber dabei zusehen zu wollen, wie Sarah Kincaid vor seinen Augen ermordet wurde, als Laydon das Geheimnis zu verraten. Aber dann traf sein Blick den von Sarah, und seine Vorsätze lösten sich in nichts auf – nicht zuletzt deshalb, weil er in diesem Moment begriff, dass er sie liebte.
»Madbut«, sagte er leise. »Jene Zeichen dort brauche ich nicht zu übersetzen, denn ich kenne ihre Bedeutung auswendig. Seit Generationen werden sie in Ben Naras Stamm weitergegeben.«
»Und?«, wollte Laydon ungeduldig wissen. »Was bedeuten sie?«
»Dass Tod und Verderben auf denjenigen lauern, der die Kammer betritt«, erwiderte Kamal genüsslich. »Nur in einem einzigen Monat des Jahres kann Thots Geheimnis gefahrlos erkundet werden.«
»An solchen Unsinn glaube ich nicht.«
»Das ist keine
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