Der Schatten von Thot
ansprang. Und es gab viel Blut zu sehen auf diesen Bildern…
»Beide Opfer wurden durch gezielte Schnitte zur Kehle getötet«, stellte Quayle betont sachlich fest. »Danach hat der Täter sie regelrecht ausgeweidet, was nach unseren Erkenntnissen darauf schließen lässt, dass es sich bei dem Mörder um einen Mann mit fundierten anatomischen Kenntnissen gehandelt haben muss.«
»Wer sagt, dass es ein Mann gewesen ist?«, fragte Sarah, die Mühe hatte, angesichts des schrecklichen Anblicks die Fassung zu wahren und sich vor Quayle keine Blöße zu geben.
»In diesem Fall der gesunde Menschenverstand«, konterte der Inspector kühl. »Wie diverse Sachverständige – darunter übrigens auch Ihr Onkel – mir versichert haben, ist einige Körperkraft nötig, um ein Opfer auf diese Weise zu töten und auszunehmen. Zudem muss der Täter, wie ich bereits erwähnte, gute Kenntnisse der Anatomie besessen haben, was auf einen Fleischer oder Veterinär schließen lässt – beides keine Berufe, die von Frauen ausgeübt werden.«
»Oder um einen Arzt«, wandte Sarah ein. »Ein Chirurg besitzt diese Kenntnisse ebenfalls, oder nicht?«
»Bitte, Lady Kincaid«, wandte Sir Jeffrey ein. »Sie werden doch nicht allen Ernstes in Erwägung ziehen, dass ein Arzt, ein gebildeter und kultivierter Mann demnach, hinter diesen abscheulichen Verbrechen stehen könnte? Das würde ja im Widerspruch zu allem stehen, was der Eid des Hippokrates bedeutet.«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Sarah, »aber Sie haben mir gestattet, Überlegungen in alle Richtungen anzustellen.« Sie griff nach einigen der Photographien und nahm sie näher in Augenschein. Den Kopf hielt sie dabei so, dass die breite Krempe ihres Hutes ihr Gesicht verdeckte – sie wollte Quayle den Triumph nicht gönnen, zu sehen, wie blass sie dabei wurde.
Die Bilder stammten sowohl vom Tatort als auch von der anschließenden Untersuchung der Leichen. Nachdem das Blut abgewaschen worden war, hatte man deutlich sehen können, wie der Täter seine Schnitte geführt hatte, und obwohl Sarah weder in der Chirurgie noch in der Anatomie sehr bewandert war, war auch für sie erkennbar, dass der Mörder mit einigem Sachverstand am Werk gewesen sein musste.
»Sie sagten, die Opfer wären ausgeweidet worden?«, erkundigte sie sich bei Quayle.
»Das stimmt. In beiden Fällen wurden innere Organe entnommen.«
»Welche Organe?«
»Nun…« Ein wenig verblüfft darüber, dass Sarah nach solchen Details fragte, durchblätterte der Inspector die Akte. »Im Fall von Nell McCrae, dem ersten Opfer, war es die Leber, die herausgeschnitten wurde. Bei Grace Brown, Opfer Nummer zwei, ist es die Lunge gewesen. In beiden Fällen hat der Täter die entnommenen Organe entwendet.«
»In der Tat«, sagte Sarah.
»Haben Sie etwa schon einen Verdacht?«, erkundigte sich Sir Jeffrey hoffnungsvoll. »Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Natur der Tat und dem unseligen Geschmiere an der Wand?«
»Noch nicht.« Sarah schüttelte den Kopf. »Aber ich werde darüber nachdenken, das verspreche ich Ihnen. Und ich wünsche baldmöglichst mit dem Duke of Clarence zu sprechen.«
»Sie wollen mit dem Herzog sprechen?«, fragte Sir Jeffrey verblüfft, und auch Mortimer Laydon schien dies, seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, für keine gute Idee zu halten.
»Natürlich – schließlich ist er derjenige, gegen den sich der Verdacht richtet, und ich würde ihm gerne einige Fragen bezüglich seiner Tätigkeit im Rahmen der Ägyptischen Liga stellen.«
»Sarah, das ist nicht…«, begann Laydon, aber Sir Jeffrey hielt ihn zurück.
»Lassen Sie es gut sein, mein lieber Mortimer – Lady Kincaid hat Recht. Wenn sie uns wirklich helfen soll, dann sollte sie auch alles erfahren…«
W HITECHAPEL
5. N OVEMBER 1883
Die Dunkelheit war noch nicht ganz über dem Londoner East End hereingebrochen, als die Klinge sich erneut auf die Suche begab – auf die Suche nach Blut.
In einem schwarz lackierten Holzkoffer, dessen Inneres mit rotem Samt ausgeschlagen war, lag sie, zusammen mit anderen Werkzeugen, derer ein Chirurg sich in Ausübung seiner Tätigkeit zu bedienen pflegte, und wartete nur darauf, dass der Koffer geöffnet wurde und sie erneut ihr blutiges Handwerk verrichten durfte.
Die Klinge musste jedoch warten, denn ihr Besitzer wurde lange Zeit nicht fündig in dieser Nacht. Erneut kroch dichter Nebel durch die Gassen von Whitechapel und dämpfte sowohl den Hufschlag der Pferde
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