Der Schatten von Thot
als auch das Gegröle, das aus den Spelunken drang. Die feuchte Kälte setzte dem Kutscher zu, der sich den Hut tief ins Gesicht gezogen und den Schal so um seine Mundpartie geschlungen hatte, dass man ihn nicht erkennen konnte.
So wartete er, genau wie die Klinge im roten Samt, und lauerte darauf, dass ein Opfer sich nähern und in die tödliche Falle tappen würde. Als sich kurz nach Mitternacht eine schäbige Spelunkentür öffnete, um eine junge Frau auszuspucken, die albern kicherte und offenbar zu viel getrunken hatte, sah der Kutscher seine Chance.
Genau wie die beiden Male zuvor, dirigierte er sein wuchtiges Gefährt an den Straßenrand und hielt an. Die Hure hob langsam den Kopf und starrte ihn mit stierem Blick an.
»Allein heute Nacht?«, fragte der Kutscher.
»Aber ja«, lallte sie, die Zunge schwer vom Gin. »Suchst du Gesellschaft?«
»Ich nicht, aber mein Herr dort in der Kutsche.«
»Tatsächlich? Was lässt er denn springen, dein feiner Herr?«
»Einen Shilling.«
»Einen Shilling? Du machst Witze, oder?«
»Keineswegs.«
»Dein feiner Herr will wirklich ‘nen Hog springen lassen?«
»Durchaus. Aber es muss rasch gehen, mein Herr ist sehr ungeduldig, wenn du verstehst.«
»Was du nicht sagst.« Sie kicherte erneut. »Dann wollen wir rasch Abhilfe schaffen, nicht wahr?«
Wankend trat sie auf die Kutsche zu und öffnete die Tür – es war der Moment, in dem die Klinge aus dem Koffer genommen wurde und unbarmherzig zustieß.
Flackernder Stahl aus tiefer Schwärze.
Entsetzt geweitete Augen.
Ein erstickter Schrei.
Roter Lebenssaft, der ein rostiges Straßenschild besudelte.
Wentworth Street…
4
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH N ACHTRAG
Der Palast von St. James.
Wieder hier zu sein, weckt Erinnerungen.
Erinnerungen an ein junges Mädchen, das sich hier einst einfinden durfte, um der Königin vorgestellt und in den Kreis der guten Londoner Gesellschaft aufgenommen zu werden.
Ein Mädchen, das lange Zeit außerhalb Englands gelebt hatte und nur wenig wusste von den vornehmen Sitten bei Hof das dem Ereignis entgegenfieberte und schlaflose Nächte damit verbrachte, sich auszumalen, wie es beim Empfang im königlichen Audienzsaal wohl sein würde.
Würde es Gefallen finden in den Augen der Majestät? Würde es dann endlich als Mitglied der Gesellschaft akzeptiert werden?
Der Tag der Vorstellung rückt näher, und das Mädchen betritt aufgeregt und mit pochendem Herzen die Galerie. Endlich darf es der Königin gegenübertreten, die die Macht eines Weltreichs symbolisiert, eines Weltreichs, das sich über fünf Kontinente erstreckt. Die Spannung steigt ins Unermessliche – doch als das Mädchen endlich den Audienzsaal betritt, ist es maßlos enttäuscht. Denn die Majestät, vor der jeder sein Haupt und sein Knie beugt und von der die halbe Welt mit Ehrfurcht spricht, erweist sich als ältliche Dame, die etwas von den steinernen Denkmälern hat, die das Mädchen bereits vielerorts gesehen hat.
Wo sind die Visionen, wo die sprühende Energie, die der Monarchin nachgesagt werden?
Wie in Trance nähert das Mädchen sich dem Thron und verneigt sich tief hört kaum, wie der Zeremonienmeister der Königin seinen Namen vorträgt. Die Potentatin reicht dem Mädchen die königliche Handy und das Mädchen küsst sie, zieht sich dann wieder zurück, ohne der Majestät den Rücken zuzuwenden, wie das Protokoll es verlangt.
Zurück bleibt ein schaler Nachgeschmack.
Wie so oft in seinem Leben gibt letztendlich die Geschichte dem Mädchen Trost – denn weder war noch bin ich die Erste, die sich von ihrem politischen Oberhaupt enttäuscht sieht…
S T . J AMES P ALACE , L ONDON
6. N OVEMBER 1883
Als die Kutsche der Metropolitan Police im Hof des königlichen Audienzpalastes anhielt, wurde Sarah Kincaid von einer ganzen Welle von Erinnerungen erfasst.
Seit jenem Tag, als sie im Alter von sechzehn Jahren der Königin vorgestellt worden war, war sie nicht mehr hier gewesen, und sie war überrascht, wie viele Details des eindrucksvollen Ziegelbaus mit dem von Türmen gesäumten Tor ihr noch gegenwärtig waren. Bis zu ihrem Umzug in den Buckingham Palace in den 30er Jahren war St. James der offizielle Sitz der Monarchin gewesen – heute diente er nur noch formellen Anlässen wie der Vorstellung junger Damen, die in die gute Gesellschaft aufgenommen zu werden wünschten. Nach all den Jahren, die Sarah wie ein ganzes Leben erschienen, war es ein eigenartiges Gefühl,
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