Der Schatten von Thot
außer Sir Jeffrey, dem königlichen Berater, war niemand darüber informiert worden – weder die Beamten des Scotland Yard, die es sicher nicht gerne gesehen hätten, dass ein Franzose, noch dazu ein Wahrsager und Geisterseher, zu dem Fall hinzugezogen wurde, noch Mortimer Laydon. Sarah war sicher, dass ihr Patenonkel nur versucht hätte, ihr die Sache auszureden. Dass er auf du Gard nicht gut zu sprechen war, war kein Geheimnis. Die beiden kannten sich von früher, und schon damals war ihr Verhältnis nicht von Zuneigung geprägt gewesen.
Erst nach Einbruch der Dunkelheit fuhr das Hansom Cab in den Innenhof des Palasts ein, und sofort waren Diener zur Stelle, um Sarah und du Gard möglichst rasch und unauffällig in das Gebäude zu geleiten. Der Duke of Clarence empfing sie einmal mehr in seinem mit Artefakten bestückten Empfangszimmer, und zu Sarahs heller Freude schien er gerade Herr seiner selbst zu sein. In einem seidenen Hausmantel, die Beine hochgelegt, lagerte er auf einem Sofa, und Sarah fragte sich unwillkürlich, ob der Genuss von Opiaten das einzige Laster war, dem der königliche Enkelsohn frönte…
»Sieh an«, sagte er, als Sarah und du Gard das Empfangszimmer betraten. Beide verneigten sich nach höfischer Sitte, auch wenn Sarahs Innerstes sich dagegen sträubte, die Knie vor einem Mordverdächtigen zu beugen. Selbst wenn er vornehmen Geblüts sein mochte…
»Was verschafft mir die unverhoffte Ehre Ihres erneuten Besuchs, Lady Kincaid? Noch dazu in Begleitung eines ausländischen Gentleman…«
»Mister du Gard mag ein französischer Landsmann sein«, räumte Sarah diplomatisch ein, »aber sein Herz, das darf ich Ihnen versichern, schlägt für das Empire. Schon meinem Vater war er ein treuer und zuverlässiger Helfer.«
»Dann soll er auch mir willkommen sein«, erwiderte der Herzog großmütig. »Was führt Sie zu mir? Gibt es bereits Neuigkeiten in dieser abscheulichen Sache zu vermelden?«
»Gewissermaßen«, erwiderte Sarah. »Aber vielleicht sollten wir diese Dinge in absoluter Vertrautheit besprechen…«
»Natürlich.« Der Duke gab seinem Leibdiener einen Wink, worauf dieser den Saal sofort verließ. Anschließend bot der Herzog seinen beiden Besuchern Sitzplätze an, und Sarah und du Gard ließen sich auf die ledernen Sessel nieder, die dem Sofa gegenüberstanden. Das flackernde Kaminfeuer warf unsteten Schein auf ihre Gesichter.
»Sicher haben Seine Hoheit bereits von dem neuerlichen Mord erfahren?«, erkundigte sich Sarah.
»Allerdings.« Der Duke nickte. »Und es stimmt mich ebenso traurig wie bedenklich, dass es noch immer nicht gelungen ist, diesen gemeinen und ruchlosen Mörder zu fassen, der es darauf anzulegen scheint, mich beim Volk in Misskredit zu bringen.«
»Diese Möglichkeit besteht«, gestand Sarah. »Allerdings muss nach dem letzten Mord auch noch eine andere Lösung in Betracht gezogen werden.«
»Eine andere Lösung?« Der Herzog warf ihr einen gehetzten Blick zu. »Wovon sprechen Sie?«
»Euer Hoheit«, erwiderte Sarah ausweichend, »würden Sie mir die Gunst erweisen, sich diesen Gegenstand einmal näher anzusehen? Ich möchte Hoheit in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Ägyptischen Liga um einen Rat ersuchen.«
»Sie wollen meinen Rat?« Die Mundwinkel des Herzogs zuckten in unverhohlenem Spott. »Sollte es nicht viel eher andersherum sein?«
»Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld, Hoheit.«
Von du Gard ließ sich Sarah einen flachen hölzernen Koffer reichen, der nur schmal, aber an die zwei Fuß breit war. Sie öffnete ihn und drehte ihn so, dass der Herzog den auf Samt gebetteten Inhalt sehen konnte. Es war eine gebogene, an die zwei Fuß lange Metallklinge, die die Form einer Sichel besaß. Griff oder Schaft gab es nicht, dafür waren, im Licht des Kaminfeuers deutlich zu erkennen, ägyptische Symbole in das Metall eingraviert.
»Was ist das?«, fragte der Herzog mit einiger Verblüffung.
»Offen gestanden, Hoheit, hatte ich gehofft, dass Sie mir dies sagen könnten.«
»Nun, es scheint ein ägyptisches Artefakt zu sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Stück Tausende von Jahren unter Wüstensand begraben gewesen sein soll…«
»In der Tat nicht, das war es nicht.« Sarah schüttelte den Kopf. »Die Klinge ist aus Stahl, den die alten Ägypter nicht kannten, wie Sie wissen.«
»Woher haben Sie es dann?«
»Aus dem Rücken von Desmond Quayle«, antwortete Sarah mit brutaler Offenheit.
»I-Inspector Quayle wurde mit
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