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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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zum Fenster, aber fast im selben Moment waren vor der Tür der Dachkammer hektische Schritte zu hören. Die morsche Holztür flog auf, und auf der Schwelle stand Quayle, schwer atmend und einen gehetzten Ausdruck auf seinen feisten Gesichtszügen. Sarah hatte ihm gesagt, wo sie im Notfall zu finden sein würde – und solch ein Notfall schien eingetreten zu sein…
    »Inspector! Was ist geschehen?«
    »Ein neuer Mord«, stieß Quayle zwischen rasselnden Atemzügen hervor. »Nicht weit von hier…«
    »Wo?«, fragte Sarah entsetzt.
    »Kommen Sie mit«, forderte Quayle sie auf, machte auf der Schwelle kehrt und polterte die hölzernen Stufen hinab, die er eben erst heraufgestiegen war. Sarah folgte ihm, und auch du Gard wollte sich anschließen. Die Drachenjagd hatte bei ihm jedoch Spuren hinterlassen – du Gards Beine gaben nach, stöhnend sank er auf seinen Stuhl zurück.
    »Du bleibst hier«, ordnete Sarah an, während sie hastig ihren Mantel überwarf. »Du bist noch zu schwach.«
    »Non, ich werde…«
    »Keine Widerrede«, beharrte Sarah barsch. Und sanfter fügte sie hinzu: »Du hast genug getan, mein Freund. Bleib hier und ruh dich aus, in Ordnung?«
    Du Gard, der noch immer ganz unter dem Eindruck dessen stand, was er in seiner Vision gesehen hatte, nickte geistesabwesend. Sarah huschte hinaus und schloss die Tür hinter sich.
    Durch das dunkle Treppenhaus, dessen Stufen geräuschvoll knarrten und in dem sie den Kopf einziehen musste, um sich nicht an den geschwärzten Deckenbalken zu stoßen, folgte sie Quayle hinab auf die Straße. Dort war die Hölle los – und das im wörtlichen Sinn.
    Uniformierte Constables kamen von allen Seiten gerannt, alarmiert vom Pfeifen ihrer Kollegen. Aus einer benachbarten Spelunke drängten Menschen auf die nächtliche Straße, über deren schmutzigem Pflaster zäher Nebel lag.
    »Was ist da los?«
    »Was gibt es?«
    »Was ist passiert?«
    »Ein neuer Mord…«
    Sarah konnte hören, wie das schreckliche Wort unter den Huren und Betrunkenen um sich griff. So schnell die eng geschnürten Schuhe mit den schmalen Absätzen es zuließen, lief sie Quayle hinterher in die St. Mark Street, die in das enge, von schmalen Gassen, verwinkelten Häusern und dunklen Hinterhöfen beherrschte Labyrinth führte, das sich westlich der Leman Street erstreckte. Die Tenter Street bildete ein Viereck, das die trostlosen Fassaden umrahmte – ihrem Verlauf folgten Sarah und der Inspector, begleitet von den Constables, die nach wie vor aus allen Richtungen herbeiströmten.
    Atemlos, den Rock ihres Kleides mit beiden Händen raffend, bog Sarah um eine Ecke aus geschwärztem Backstein – und erblickte im nächsten Augenblick die blutige, leblose Gestalt, die am Fuß der Mauer auf dem nackten Pflaster lag. Wie zuvor war das Opfer eine junge Frau; ihre Kleider waren blutdurchtränkt, der Boden unter ihr in grelles Rot getaucht. Und über ihr prangte jenes Zeichen an der Mauer, das der Täter auch bei allen anderen Opfern hinterlassen hatte.
    Das Zeichen von Thot…
    »Oh, mein Gott!«
    In einem ersten Reflex schlug Sarah die Hände vors Gesicht und wandte sich ab. Zwar hatte sie die Photographien der anderen Opfer gesehen – das schreiend rote Blut und den grässlich verunstalteten Leichnam in Wirklichkeit zu erblicken ließ sich damit jedoch nicht vergleichen. Der beißende Gestank in den Gassen, der sich mit dem Geruch des Blutes mischte, wollte Sarah den Magen umdrehen, aber sie beherrschte sich. Indem sie all ihre Disziplin zusammennahm, zwang sie sich, die Augen zu öffnen und sich wieder dem Tatort zuzuwenden, den Quayle bereits inspizierte. Mit gezücktem Notizbuch stand der Inspector da und nahm die Leiche in Augenschein. Die Gefühlskälte, die er dabei an den Tag legte, schockierte Sarah zusätzlich.
    Blut, überall Blut…
    Sie musste an du Gards Worte denken. Von einem Geist hatte er gesprochen, von einem Phantom, das sich näherte – und tatsächlich hatte der Mörder in unmittelbarer Nachbarschaft zugeschlagen…
    Schaulustige, die den Constables gefolgt waren, drängten heran, und die Ordnungshüter hatten alle Hände voll zu tun, sie vom Tatort fernzuhalten. Quayle setzte unterdessen seine Untersuchung fort. Er schien geradezu begeistert über die Gelegenheit zu sein, die sich ihm bot.
    »Das ist eine seltene Chance!«, triumphierte er. »So früh sind wir noch nie am Tatort gewesen. Das Blut ist noch frisch, und die Leichenstarre ist noch nicht eingetreten. Der Mord hat sich erst vor

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