Der Schatten von Thot
unschuldig zu gelten…
»Hoheit«, sagte sie deshalb, »wollen Sie die Wahrheit erfahren?«
»Die Wahrheit?«, hauchte der Duke of Clarence mit flehendem Blick. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. »Ich bin mir nicht sicher… Ich fürchte mich vor der Wahrheit, Sarah.«
»Ich weiß.« Sie nickte. »Aber nur so werden Sie Gewissheit bekommen – und wir ebenso.«
»Wie wollen Sie das anfangen? Ich weiß ja selbst nicht, wozu ich fähig bin.«
»Très simple«, erklärte du Gard, »es ist sehr einfach. Mit Hilfe einer Technik, die man ›Hypnose‹ nennt, wird es mir möglich sein, verschüttete Erinnerungen offenzulegen, Hoheit. Sie werden dabei keinen Schmerz verspüren und anschließend von nichts wissen – aber während der Hypnose werden Sie sich an alles erinnern, was gewesen ist.«
»An alles?«, fragte der Duke ängstlich.
»C’est ça.«
Der Herzog blickte zuerst du Gard, dann Sarah fragend an. Es war der panische, Hilfe suchende Blick eines Kindes. Einen Moment lang schien er unentschlossen und zögerte, sich der Wahrheit zu stellen, aus Furcht vor dem, was dabei ans Licht kommen könnte. Dann jedoch wurde ihm wohl klar, dass er keine Wahl hatte, wenn er Verantwortung übernehmen und weiteren Schaden vom Königshaus fernhalten wollte.
»Gut«, erklärte er sich widerstrebend zu dem Experiment bereit. »Ich bin einverstanden.«
»Bon.« Du Gard nickte und erhob sich von seinem Sessel. Er forderte den Herzog auf, sich zu entspannen, während er selbst einen unscheinbaren Gegenstand aus seiner Rocktasche zog. Es war ein kleiner Kristall, der an einer kurzen Kette hing und in dessen geschliffener Oberfläche sich glitzernd der Schein des Kaminfeuers brach. Helle Lichttupfen wanderten über die blassen Züge des Herzogs, während er fasziniert auf das Pendel starrte, das du Gard vor seinen Augen hin und her bewegte.
»So ist es gut«, lobte der Franzose mir ruhiger Stimme. »Konzentrieren Sie sich auf den Kristall, Hoheit. Nichts anderes existiert in diesem Augenblick für Sie als dieser Kristall. Der Kristall ist Ihre Welt. Hier finden Sie alles, was Sie zurückgelassen haben, Ihre Ängste und ferne Erinnerungen…«
Der Herzog erwiderte nichts, aber seine verkrampfte Gestalt entspannte sich ein wenig, und an seinen gleichmäßigen Atemzügen konnte Sarah erkennen, dass er sich tatsächlich ein wenig beruhigte. Einmal mehr konnte sie nicht umhin, du Gard zu bewundern – für einen angeblichen Scharlatan machte er seine Sache ganz ausgezeichnet.
Das unstete Flackern in den Augen des Dukes legte sich, sein Blick wurde matt und schläfrig – und endlich schloss er die Augen.
»Können Euer Hoheit mich hören?«, fragte du Gard dennoch.
»Ja«, kam es leise zurück.
»Hoheit werden nun alle Fragen, die wir stellen, wahrheitsgemäß beantworten. Das lateinische Wort expergitur wird den Bann beenden. Wenn Sie es hören, werden Sie erwachen und sich an nichts erinnern. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.«
Du Gard nickte Sarah zu. Der königliche Enkel war jetzt soweit – bereit, jene Bereiche seines Gewissens zu erforschen, über die der Drache seine dunklen Schwingen gebreitet hatte.
Sarah war nicht sehr wohl dabei. Ihr war klar, dass sie viel riskierten, aber du Gard hatte ihr versichert, dass der Herzog bei der Hypnose keinerlei Schaden davontragen und sich am Ende an nichts erinnern würde. Und sie brauchte Gewissheit. Das Bild der jungen Frau, die brutal ermordet in ihrem Blut lag, ging Sarah nicht mehr aus dem Kopf, ebenso wenig wie das der königlichen Kutsche, die im Nebel verschwand. Nun wollte sie endlich die Wahrheit erfahren. Die nackte, ungeschönte Wahrheit…
»Hoheit?«, fragte sie leise.
»Ja?«
»Erinnern Sie sich an vorletzte Nacht?«
»Ja.«
»Was taten Sie in jener Nacht?«
Der Herzog ließ sich mit der Antwort Zeit, sein Atem rasselte leise.
»Verzeihen Sie, Hoheit, ich habe Sie etwas gefragt«, brachte Sarah sich sanft in Erinnerung.
»Geschlafen«, entgegnete der Herzog schließlich. »Ich habe geschlafen.«
»Die ganze Nacht?«
»Ja«, lautete die prompte Antwort, worauf Sarah du Gard einen halbwegs erleichterten Blick zuwarf.
»Haben Sie zum Schlafen etwas eingenommen?«, erkundigte sich der Franzose dennoch. »Vielleicht Ihre… Medizin?«
»Ja.«
»Und? Haben Sie gut geschlafen?«
»Nicht sehr. Ich schlafe nie sehr gut.«
»Woran liegt das?«
»An den Bildern, die ich sehe.«
»Was sind das für Bilder?«, hakte der Franzose nach.
»Bilder
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